Die Umstellung des GoogleReaders ist in ihrer Unbedachtheit wirklich außergewöhnlich. Google hat nicht nur die sozialen Features entfernt sondern den 'Ersatz' auch noch in einer stümperhaften Weise umgesetzt, dass es einem den Atem verschlägt. Hinzu kommt eine peinliche Veröffentlichung einer nativen iOS-App für GMail und andere Vorgänge, die die Frage aufwerfen, was zur Hölle bei Google los ist.
Stümperhafte neue Oberfläche im GoogleReader
Wir erinnern uns: Google hat die Sharing-Community des GoogleReaders abgestellt zu Gunsten einer Google+-Integration. Zumindest war es so angekündigt. Was dann umgesetzt wurde, kann man nicht anders als eine Beleidigung deuten: Der +1-Button wurde in die Funktionszeile unter dem aufgeklappten Artikel einfach reingepflastert. Alle anderen Funktionen auf dieser Ebene sind Textfelder; die teilweise von dem nicht hinein passenden Button bis zur Unlesbarkeit verschoben werden. In den Kommentaren schrieb ich nach der Umstellung:
Das Interface ist kompletter Murks. Der +1-Button sieht schon in der Web-Oberfläche vom GoogleReader komisch in der Leiste aus und sieht in der Mobil-Oberfläche aus, als wäre er dort reingetackert worden und würde jetzt von Panzertape zusammengehalten. MySpace-Feeling.
Die Stümperhaftigkeit hält bei der Oberfläche nicht auf.
Schlecht umgesetzte Funktionen im GoogleReader
Das neue Sharing-Feature, das mich als Reader-Nutzer an Google+ fesseln soll, ist nicht nur durch diese Beschränkung weniger nützlich. Auch das Teilen an Google+ selbst ist unnötig umständlich geworden.
Während das frühere Sharing im Regelfall lediglich einen Klick benötigt hat (Ein-Klick-Geste!) und es dafür auch einen Tastatur-Shortcut gab, ist das neue G+-Share eine Klick-Orgie, wie der ehemalige GoogleReader-Entwickler Brian Shih ausführt:
Click +1 (no keyboard shortcuts for you)
Click the text box that appears that says "Share to G+"
3.Then choose your circle you want to share to (or let it default to public)
4.Then click Share
Zusätzlich ist das Teilen an Google+ in der mobilen Ansicht nicht möglich, weil in dieser lediglich der stille +1-Klick möglich ist, ohne die Weiterleitung an Google+, die mindestens einen Kommentar verlangt, den man mobil nicht eingeben kann.
Meine Vermutung: Derjenige der das umgesetzt hat, arbeitet nicht mit GoogleReader; und bei Google wahrscheinlich nur als Praktikant.
Shih weiter:
The frustrating thing is that these pitfalls could have been avoided through a more thought out integration. As Kevin Fox has already pointed out, Google could have easily made it so that sharing was pushed through G+ (therefore giving providing content on G+, and gaining all the benefits of an integration), but also replaced shared items from People You Follow with a Reader-specific Circle.But no - instead, they've ripped out the ability to consume shared items wholesale from the product. The closest analogue might be if Twitter made it so that 3rd party clients could use the Retweet functionality to push Retweets to a user's stream -- but only allowed you to consume Retweets on twitter.com.
It's almost as if Google wants to demonstrate that, yes, they don't really get platforms. Instead of improving the G+ API to support Reader as a fully functional 3rd party client (a la Twitter), they've instead crippled the product under the guise of improvements.
Nutzergruppen, Netzwerke und Strategien: Nicht Googles Sache
Google verhält sich hier sehr dumm. Und das nicht, weil sie 'loyalen Nutzern' ein 'Spielzeug' weggenommen haben. Google hat das Recht mit dem GoogleReader zu machen was sie wollen. Viele Beobachter haben geschrieben, dass sie zwar nicht mögen, was Google gemacht hat, aber dass es wohl in Googles langfristigem Interesse sei, was da passiert ist.
Falsch.
Diese falsche Annahme kommt von der Prämisse, von der viele Techblogger unsinnigerweise ausgehen: Jeder Webdienst muss ausnahmslos Mainstreampotential haben. Hat der Dienst das nicht, ist er irrelevant, zum Scheitern verurteilt, tot.
Das ist Blödsinn. Vor allem ist es Blödsinn für ein Produkt aus einem Portfolio eines großen Konzerns wie Google. Dieser Konzern muss das große Ganze sehen. Er muss erkennen, dass die Nutzung eines Produkts, die Nutzung eines anderen Produkts steigern kann. Eigentlich hatte Google einmal verstanden, wie man Komplementäre richtig einsetzt.
Ein kleiner Exkurs:
Appel ist bekannt dafür, dass sie sich auf relativ wenige Produkte konzentrieren und diese dafür richtig umsetzen.
Apple wird also nur Produkte im Angebot haben, die auch für ein Maximum an Kunden interessant sind. Richtig?
Falsch.
Apple entwickelt unter andern die professionelle Musiksequenzersoftware Logic oder die Videobearbeitungssoftware Final Cut Pro. Beides Programme, die nur für einen Bruchteil der Mac-Nutzer interessant sind.
Warum macht Apple das? Weil sie, als sie für ihre Macs noch um jeden Marktanteil kämpfen mussten, gesehen haben, dass ihnen diese Nutzergruppen helfen können: Ihre Produkte (Macs) waren in diesen Kreisen bereits überdurchschnittlich beliebt, Wachstum war dort also einfacher. Zusätzlich helfen diese Nutzergruppen, neue Kunden von den eigenen Produkten zu überzeugen.
Apple hat Ähnliches mit dem iPod gemacht: Weil der MP3-Player anfangs nur mit Macs lief, hat er gleichzeitig die Mac-Verkäufe angekurbelt. Jobs hat das erkannt, und große Teile des Marketing-Budgets für Macs auf den iPod verlagert. Etwas, das der iPod-Markt allein nicht gerechtfertigt hätte. (Aus der Jobs-Biographie von Isaacson)
Google hat(te) mit dem GoogleReader und seiner Community etwas vergleichbares wie das, was Apple mit Logic und Final Cut Pro hat: Google hatte eine Gruppe gut vernetzter Online-Multiplikatoren dank Follower-Prinzip in ihrem bevorzugten Tool sozusagen 'by the lock-in-balls'.
Diese Gruppe ist enorm wichtig, um zum Beispiel Google+ weiter wachsen zu lassen. Ein Prozent ist in der Regel für die Mehrheit der Inhalte auf einer UGC-Plattform verantwortlich. Dieses eine extrem wichtige Prozent ist zu begeistern und zu halten. Man sollte es diesem einen Prozent so leicht wie möglich machen, die Plattform zu befüllen.
Google+ hat keine Read/Write-API, deshalb können dafür noch keine Poweruser-Tools geschrieben werden, wie sie etwa für Twitter existieren.
Es ist wirklich unglaublich, dass Google das nicht gesehen hat: GoogleReader hätte mit einer zaghaften Änderung dieses Powertool werden können. Die Shared-Items-Funktion hätte lediglich gleichzeitig an Google+ senden müssen. Man hätte noch mehr machen können, aber das allein hätte schon gereicht für eine erfolgreiche 'Integration', weil es für sehr viel mehr Inhalte auf Google+ gesorgt hätte.
In meiner ursprünglichen Analyse schrieb ich:
Die unangetastete Sharing-Option lies such mittels Opt-in in Google Buzz integrieren. Neue Shared Items erschienen in Buzz. Kommentare in Buzz waren gleichzeitig Kommentare in GoogleReader. Der GoogleReader war sozusagen eine Art Buzz-Client für Poweruser. Genau das hätte Google auch im Zusammenspiel von GoogleReader und Google+ als Strategie umsetzen sollen:Den Powerusern es so einfach wie möglich machen, mit GoogleReader glücklich zu werden und gleichzeitig ihr dortiges Sharing-Verhalten sanft (sprich ohne Einbußen) in Google+ hereinzuziehen. Gleichzeitig wäre es sinnvoll für Google, GoogleReader bewusst zu einem Tool auszubauen, dass nützlich für Poweruser ist.
Google hat nicht nur das nicht gemacht. Ihre 'Integration' erscheint lächerlich stümperhaft und vollkommen undurchdacht.
Was kommt als nächstes? Wird auf YouTube das Feature abgeschafft, andere Benutzer zu abonnieren und ersetzt durch einen +1-Button? Weil man das alles ja schließlich auch mit Circles abbilden kann? Es ist haarsträubend.
Ich habe noch von keinem einzigen Readernutzer gelesen, der nicht bei Google arbeitet und die Änderungen gut findet.
Die Folge ist nicht das Verschieben des alten Sharing-Verhaltens in Richtung Google+, wie man bei Google in einem Anfall geistiger Umnachtung gehofft haben wird.
Stattdessen: Die gut vernetzten Multiplikatoren schauen sich nach Alternativen um: Von Pinboard über Instapaper bis hin zu neuen, noch nicht fertigen Feedreadern. Da das alles zumindest noch keine Lösung ist, ist das Sharing vorerst größtenteils verschwunden.
Google hat(te) die größte Community von Online-Multiplikatoren und hat sie einfach weggeworfen. Aber nicht ohne diesen Nutzern vorher zu zeigen, wie egal sie Google sind. Das werden viele nicht vergessen. Nochmal: Das war vollkommen unnötig und es ist noch nicht einmal in Googles langfristigem Interesse.
(Größte Community: Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber ich schätze dass die Nutzerschaft von GoogleReader mindestens im hohen einstelligen Millionenbereich, höchstwahrscheinlich im zweistelligen Millionenbereich liegt. Das ist kein Facebook, aber bei Gott, mehrere Millionen bestvernetzer Blogger, Journalisten und Infobroker weltweit wirft man nicht weg, wenn man weiß, was man da hat.)
What's going on
Warum verhält sich Google so merkwürdig? Warum werden so wichtige Änderungen nicht mehr gründlich analysiert?
Markus Spath legt den Finger in die Facebook-Wunde:
die traurige nachricht dabei ist leider, dass man google nicht länger eine funktionierende urteilskraft unterstellen kann, vielmehr kann man ihnen fortan alles zutrauen. die gesamte dontdoevil-narration ist natürlich so viel wert wie klopapier, wenn sie sich mit facebook – und also das erste mal mit einem echten herausforderer – konfrontiert in einen moron verwandeln, der seine infomonopolistischen marktmacht ohne rücksicht auf verluste (auf seiten der user, wohin sollen sie den gehen, muhaha) ausnützt, um dem eigenen hoffnungsträger g+ ein gewisses momentum zu verleihen; wobei sie das alleine natürlich nicht evil macht, aber – wie diplix schön sagt – billig, schlampig und doof.
Google sieht sich mit Facebook zum ersten Mal einem Konkurrenten auf der gleichen Wertschöpfungsebene gegenüber, der auch noch etwas macht, das man selbst nicht so richtig versteht.
Das erklärt die Abschaltung der Shared Items und der damit verbundene G+-Zwang. Aber nicht die grotesk stümperhafte Integration von Google+ in GoogleReader.
Die diese Woche veröffentlichte iOS-App für Gmail deutet im Verbund mit dem G+-Reader-Debakel an, dass bei Google etwas grundsätzlich nicht mehr stimmt. Die App wurde aufgrund schlimmster Fehler wenige Stunden nach der Freischaltung im Appstore sofort wieder zurückgezogen. MG Siegler:
When you release sub-par products, you look sub-par yourself. Customers don’t care what platform it’s on, and don’t care what politics are going on behind the scenes at the company. If you release shit, you look like shit. It’s much better to release nothing at all.
Perhaps that’s a bit harsh. The native Gmail app isn’t really shit (though some would disagree) — it’s just buggy as fuck and extremely underwhelming. It’s just a wrapper around UIWebView. That means the only native thing about the app is Push Notifications. And guess what they managed to fuck up? Yup.
And all of this is the M.O. of pretty much all Google iOS apps. They’re half-ass, buggy, and generally ugly to boot.
Und Marco Arment fügt an:
Microsoft is a company with no product-oriented leadership at the top, infinite engineering talent, and enough bureaucracy to prevent almost everything new from seeing the light of day.Google is a company with little product-oriented leadership at the top, infinite engineering talent, and seemingly no filter on what goes out the door.
Als Google ihr ambitioniertes Google Wave nach verhältnismäßig kurzer Zeit und aufgrund ausbleibenden Erfolgs einstellten, merkte ich an, dass ihnen das ein Stück des Vertrauens bei Entwicklern gekostet hat. Google ist nicht mehr der Anbieter von Plattformen und APIs, in die man ruhigen Gewissens investieren kann, weil Google Geld, Geduld und die Expertise für gute Aussichten auf Erfolg hat.
Tatsächlich hätte man aber damals bereits ahnen können, dass Google ein tief gehendes Problem bei der Produktentwicklung hat.
Der nächste Fehlschlag war Google Buzz, der Vorgänger von Google+, der ebenfalls in den nächsten Tagen abgeschaltet wird. Hat man sich Buzz im Vergleich zu dem älteren, von einem kleineren Team entwickelten, und längst nicht mehr weiterentwickelten FriendFeed angeschaut, dann drängte sich die Frage auf, wie Google mit seinen viel größeren Ressourcen ein sehr viel schlechteres Produkt entwickeln konnte und noch nicht einmal aus den Fehlern der älteren FriendFeed-Iterationen gelernt hatte.
Ohne nun auch noch detailliert auf die Pseudonym-Doppelmoral bei Google+ (solang man Usher oder Madonna ist, darf man ein Pseudonym bei G+ benutzen, sonst nicht.) oder die Preisentwicklung bei GoogleMaps einzugehen:
Googles Trackrecord sieht immer schlechter aus. Die Strategie scheint zu fehlen und die aktuellen Entscheidungen deuten darauf hin, dass man oft nicht versteht, wie Netzwerke von Menschen funktionieren.
Das aktuelle Google hat zumindest für die nähere Zukunft mein Vertrauen darin verloren, dass man dort weiß, was man macht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber Google scheint tatsächlich das neue Microsoft zu sein.
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