2. Nov. 2022 Lesezeit: 8 Min.

Wie Twitter sterben wird

Wie Twitter sterben wird

Es ist erstaunlich, wie die Twitter-Übernahme durch Musk und Konsorten aktuell in der Öffentlichkeit ausschließlich mit Blick auf den Käufer behandelt wird. Niemand fragt sich, warum das Board auf den Verkauf bestanden hat, nachdem Musk versuchte aus dem Deal herauszuwieseln. Warum trotzdem verkaufen? Warum, wenn schon verkaufen, keinen "besseren" Käufer finden? Twitter ist doch so toll? Dabei lohnt sich gerade jetzt auch ein Blick auf den Verkäufer, weil es uns etwas über den Zustand des Netzwerkes Twitter sagt, das viele Poweruser völlig falsch sehen dürften. Zum Glück gab es vor ein paar Tagen augenöffnende interne Zahlen via Reuters, die zeigen wie schlecht es um Twitter steht.

Das Twitter-Board sah ein sehr langsam aber beständig sterbendes Netzwerk, kümmerte sich um die Shareholder und wollte, schlicht gesagt, zu diesem Preis einfach raus aus der Sache; so wie die größten Shareholder.

Der folgende Text ist zuerst in Nexus 129: Wie Twitter sterben wird, VW & Argo AI, Metas VR-Dilemma, Bird, Timing des Quick-Commerce-Modells, AI-Content 2025 erschienen.


Dieser Report von Reuters, der sich auf interne Zahlen bezieht, macht gerade die Runde:

These „heavy tweeters“ account for less than 10% of monthly overall users but generate 90% of all tweets and half of global revenue. Heavy tweeters have been in „absolute decline“ since the pandemic began, a Twitter researcher wrote in an internal document titled “Where did the Tweeters Go?”

A „heavy tweeter“ is defined as someone who logs in to Twitter six or seven days a week and tweets about three to four times a week, the document said.

Interessant ist, dass das kleine Twitter (selbst Snapchat hat mehr DAUs als Twitter) seine Poweruser verliert.

90-9-1 & Erstellungshürden

Jede:r kennt die 90-9-1-Verteilung bei der Nutzung von kostenfreien Diensten.

OK, Oldtimer-Alarm, hier ein Zitat von mir von 2011:

Man benötigt immer weniger Zeit, um etwas zu lesen, anzuhören, anzuschauen oder anderweitig zu konsumieren als man benötigt, um es zu erstellen.

Ergo wird es zum Beispiel immer mehr Leser als Schreiber geben, wenn die Schreiber etwas Interessantes zu sagen haben.

Letztlich kann man es also auch so sehen: Erst wenn ein Dienst in eine 90-9-1-Nutzungsverteilung rutscht, ist er erfolgreich (von absoluten Zahlen einmal abgesehen). Denn erst dann nutzt das aktive eine Prozent den Dienst so, dass ihre Ergebnisse für eine viel größere Gruppe interessant sind.

Ein Missverständnis der 90-9-1-Regel war immer, dass die Aufteilung genau 90%, 9%, 1% sein müsse, sonst yaddayadda. Tatsächlich geht es nur um das Verhältnis der Interaktionsarten zueinander.

Wie schwer oder einfach die Erstellung eines Mediums ist, hat einen direkten Einfluss auf die Verteilung.

Wie schlecht Twitter, das Unternehmen, Twitter, das Produkt, zusammenhält, kann man unter anderem daran erkennen, dass es keine soziale Medienform gibt, deren Erstellungshürde niedriger als ein Tweet ist. Und trotzdem sinkt Partizipation auf dem Netzwerk.

Twitters Poweruser-Definition

„Heavy Tweeter“ also Poweruser, sind nach internen Benchmarks Leute, die sich sechs oder sieben Tage pro Woche einloggen (ok) und drei bis vier Mal pro Woche twittern (say what).

Es gibt sehr viele Youtuber, Tiktoker und Instagramer, die öfter Inhalte auf den jeweiligen Plattformen veröffentlichen, ohne dass das auch nur ansatzweise ihr Job wäre. Ich muss nicht ausführen, dass YouTube-Videos auf technischer Ebene eine größere Erstellungshürde haben als Tweets, oder?

Es wäre interessant die Verteilungen zu sehen. Ich wette der Prozentsatz an Usern, der öfter als 3 oder 4 Mal die Woche auf Instagram postet, ist höher als jene auf Twitter. Schließt man Instagram Stories mit ein, dürfte es um Dimensionen größer sein auf Instagram.

Kurz: Twitter hat ein Umfeld geschaffen, in dem viele Nutzer:innen aus verschiedensten Gründen maximal passiv teilnehmen wollen oder die Plattform ganz verlassen.

Über die Gründe kann man diskutieren, das Ergebnis ist klar.

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Poweruser-Taschenuniversen auf Twitter

Ich habe in den letzten Monaten meine Twitternutzung bewusst wieder reduziert und trotzdem rage ich über die 3-4 Mal pro Woche noch hinaus. Interessanter aber finde ich folgende Beobachtung:

Mir ist kein einziger Account bekannt, der in meiner Timeline auftaucht, der auch nur ansatzweise so wenig auf Twitter postet.

Wenn Accounts in meiner Timeline auftauchen, die 3-4 Mal pro Tag posten, dann sind das die weniger aktiven Accounts.

Meine These: Weil die technische Erstellungshürde von Tweets so niedrig ist, ist die Diskrepanz zwischen den 9-10% „Heavy Tweetern“ und dem obersten 1% sehr viel höher als bei anderen Plattformen.

Nehmen wir TikTok oder YouTube: Ich bezweifle, dass es signifikant viele Accounts in den obersten 1% gibt, die an einem halben Tag so viel Videomaterial posten, wie die nächstmeistaktiven 10%.

Für Twitter dürfte das allerdings die bizarre Norm sein:

3 Posts von Heavy Tweetern pro Woche = 12 Tweets pro Monat.

Wer ein bisschen aktiv auf Twitter ist, dürfte vor allem Accounts kennen, die 12 Tweets und mehr an „normalen“ Tagen posten. Das dürfte eher der normale Modus für einen Teil der Top-1% auf Twitter sein.

Daraus lässt sich auch ein Teil der Popularität von Stories (und TikTok-Style-Kurzvideos) bei Instagram und co. ableiten. Und warum Twitter das unsinnige Fleets probiert hat.

Aber zurück zu Twitter:

Diese Diskrepanz in der Nutzung führt zu verschobenen Wahrnehmungen, was Twitter ist.

50 hyperaktive Leute, denen man folgt und bei den Dingen zustimmt, zu denen sie Impulskontrollschwächen haben, reichen aus, um ein (falsches) Gefühl von Öffentlichkeit, Betriebsamkeit und Relevanz zu schaffen.

Diese Dissonanz ist nicht neu. Journalist:innen lieb(t)en Twitter und schrieben dem öffentlichen / öffentlich erscheinenden Twitter beim arabischen Frühling mehr Bedeutung zu als Facebook, das einhellig von den damaligen Aktivist:innen als weitaus wichtiger gesehen wurde. (Siehe unter anderem Kommunikation und Organisation: Facebook, Twitter und Ägypten von 2011)

Wie sehr Twitter rings um diese hyperaktiven Taschenuniversen bereits abgestorben ist, kann jede:r an den Views sehen, die die eigenen Tweets bringen. Vor vielen Jahren (2013-14 oder möglicherweise früher?) ist mir aufgefallen, wie irrelevant Twitter in Deutschland ist, weil selbst sehr virale Tweets mit Links keinen direkten spürbaren Effekt auf die Zugriffe auf neunetz.com hatten.

Twitter stirbt seit ein paar Jahren.

All das bringt uns zur aktuellen Ausgabe des Garbage-Day-Newsletters von Ryan Broderick mit dem Titel: Someday soon, you will tweet for the last time.

Darin schreibt er, wie Netzwerke sterben, entweder per Abschaltung (Twitter wollte keinen TikTok-Erfolg, also hat es Vine abgeschaltet) oder langsam aber sicher:

Typically, there are a few ways a social network “dies”. There are the ones that die a true death, like my sweet beautiful Vine. And there are ones that sort of shuffle along as zombies, decomposing, but never really ending, only getting smaller, more insular, and more grim as the last casual users leave. Based on how addicted some people are to the site, I assume Twitter will be the latter.

Nach allem was ich oben schrieb, hier nun meine These. Twitter stirbt bereits seit Jahren, langsam aber sicher.

Die absurden internen Zahlen (gemessen an der Erstellungshürde vergleichsweise inaktive „Heavy Tweeter“, deren absolute Zahl zusätzlich sinkt) deuten auf ein Netzwerk hin, das sehr viel kleiner und kranker ist als es den hyperaktiven Journalist:innen und anderen Powerusern auffallen dürfte.

Da Twitter immer schon schlecht in Produktentwicklung war (ich habe über die Jahre viel zu viel über dieses Thema geschrieben), versucht Twitter, das Unternehmen, mit unsinnigsten Neuerungen diesem Trend zu begegnen.

Diese Neuerungen sind bestenfalls Nonsense (Fleets), oft konsequenzlos (Twitters Clubhouse-Klon Spaces, dessen Name ich eben duckduckgoen musste) und leider viel zu oft sogar destruktiv. Broderick über die destruktiven Dinge:

The most typical way users encounter trending content is when a massively viral tweet — or subtweets about that tweet or the discourse it created — enters their feed. Then it’s up to them to figure out what kind of account posted the tweet, what kind of accounts are sharing the tweet, and what accounts are saying about the tweet. Or you see viral tweets courtesy of the app’s Explore page, which is literal hell. This morning, the top trending topic in the United States was apparently “orange chicken,” which I think is because of this meme, but it could also be because everyone is fighting over whether Panda Express is good. It’s madness and, frankly, for a platform that is old enough to drive and one so central to breaking news, civic engagement, and, during the pandemic, the transmission of vital public health updates, it’s frankly embarrassing.

Making things worse, every time Twitter adds in new features for managing discussion they inadvertently just create more chaos on the site. Giving users the ability to limit or turn off replies, but also releasing a quote-tweet option is probably the most outrageous product decision I’ve ever seen in my life.

​Die Trends-Aggregation in der Sidebar (die ich auf Bhutan gestellt habe, um sie nicht mehr zu sehen) haben die Kulturkampfhaftigkeit von Twitter ins Unerträgliche gesteigert. (let’s see if we can get this trending) Siehe dazu auch Das Internet of Beefs in Nexus 97.

Anyway, die schlechten internen Zahlen, die Tatsache, dass das Unternehmen scheinbar keine Idee hat, wie man den Trend umkehren kann, außer ihn zu beschleunigen mit dem Kauf und der Einstellung sinnvoller Komplementärangebote von Dritten (Nuzzel), dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum das Board am Musk-Deal festgehalten hat. So wie es ist, wird es nicht besser, besser raus also solang man noch kann.

Twitter stirbt, aber langsam, fast unsichtbar.

Es ist ein langsamer Prozess, weil der Lockin so stark ist. (Twitter hat den Interest Graph als Geisel genommen.)

Dieser Lockin hat Twitter lange gerettet, aber die Welt ist heute anders als vor 10 Jahren und auch anders als vor 5 Jahren.

Die Konkurrenz für Twitter liegt bei:

  • LinkedIn
  • Substack
  • Podcasts & Newsletter allgemein
  • TikTok
  • Discord
  • Snapchat
  • BeReal
  • Fortnite und Roblox

Wie wird es weiter gehen

Aus Elon Musk und die Feedöffentlichkeit vom Mai:

Dieser Zustand der Stasis ist jetzt vorbei. Musk, ob absichtlich oder nicht, reißt mit der kommenden Übernahme Twitter von seinem gemütlich mit Missbrauchskissen und Quotehassdecken ausgelegten Sofa.

Vielleicht werden Musk und seine Partner diesen Knotenpunkt der vernetzten Öffentlichkeit völlig ruinieren, vielleicht wird er unter seiner Leitung erstmals sein Potenzial annähernd ausschöpfen können. Alles ist möglich. Nur eins ist sicher: Veränderungen stehen an.

So oder so, die Zeit, in der wir uns mit den Unzulänglichkeiten von Twitter aufgrund des immensen Lockins abfinden mussten, geht zu Ende. Und das ist gut so.

Embrace the coming chaos.

Das bleibt bestehen. Einzig hinzufügen würde ich Folgendes: Auch wenn Twitter als Plattform in 15 Jahren noch benutzt werden sollte, so werden die Communities/das Netzwerk nicht nur dann sondern bereits in ein, zwei Jahren anders aussehen.

Was war, ist vergangen.

Musk und co. werden Verschiedenes versuchen. Das Ding geschlossen halten, wird nicht funktionieren, den Social Graph zu öffnen wird zu einer weiteren Zersplitterung führen.

Der Lockin von Twitters asymmetrischen Graph war, dass er nie 100%ig an anderer Stelle nachgebildet werden konnte. Das gilt auch jetzt. Weggang bedeutet Zersplitterung.

(Den radikalen Protokoll-Weg, der das verhindern würde, sehe ich nicht als Option. Für diese Kraftanstrenung ist die Zeit abgelaufen. Timing!)

Die ersten Journalist:innen beklagen bereits, was damit verloren geht: What happens to journalists after Twitter?

But that sense of inter-journalist community—that “private and professional mixed culture” Broderick wrote about—doesn’t exist anywhere else online.

Diese Journalist:innenkonzentration ist ein Faszinosum. Ich schrieb oben, dass ein viraler Tweet mit Link nicht direkt Leserschaft bringt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, Tweets können zu Links und anderen Aufmerksamkeitsspiralen in redaktionellen Medien führen, weil so viele Redakteur:innen auf Twitter aktiv sind.

Das hat Vorteile (Durchlässigkeit in der Öffentlichkeit) aber in dieser Konzentration auf eine Plattform, ihre Medienart und internen Ungleichgewichte auch massive Nachteile: Gruppendenken und Herdenverhalten kann so sehr viel verdeckter bei den Betroffenen stattfinden. (Weil sie global und aus unterschiedlichen Branchen den gleichen Dynamiken ausgesetzt sind.)

Eine zersplitterte Journalist:innen/Creator/Publisher-Welt ist eine bessere Welt.

Die wachsende Bedeutung von LinkedIn dürfte an dieser Stelle die Zersplitterung bereits zementiert haben.

Zwei abschließende Bemerkungen:

Der interne Report nennt laut Reuters Crypto und NSFW als wachsende Inhalte auf Twitter.

Crypto ist ein relevantes und sehr großes Thema und Twitter ein zentraler Knotenpunkt für diesen Sektor. Das ist gut, was die Relevanz von Twitter angeht. Crypto zeigt gleichzeitig, wie schlecht die Spam-Bekämpfung auf Twitter ist.

Twitter verliert gleichzeitig Nutzer:innen die sich für Themen wie Sport, Fashion und Prominente interessieren. Das ist nicht überraschend, TikTok, Instagram und YouTube (Shorts) decken diese Interessen besser ab.


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Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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