Sascha Lobo auf Spiegel Online über Steve Jobs‘ Antwort an einen Blogger seinerzeit zur Frage, was am iPad eigentlich eine Revolution sei:
Die Antwort von Steve Jobs: Bei Apples Revolution des Post-PC-Zeitalters gehe es natürlich um Freiheit. Und zwar die Freiheit von Schadprogrammen und von Pornografie.
Diese Verwendung des Begriffs Freiheit (der Hund ist frei von Flöhen) hat ein recht bekanntes literarisches Vorbild. In George Orwells Roman 1984 werden in Form des Konzepts Neusprech die Regeln der Sprache auf genau diese Weise neu festgelegt. Da scheint eine Haltung in Jobs‘ Antwort durch, über die man sich Sorgen machen könnte.
Es ist wirklich erstaunlich, dass nicht nur in Linux consolidierende Geeks, sondern auch intellektuelle Apple-Nutzer wie Sascha Lobo nicht sehen können, dass der Schutz vor Schadprogrammen natürlich eine Art Freiheit ist.
Warum ist er das? Weil zum ersten Mal Computeranfänger keine Angst mehr davor haben müssen, dass ihr Rechner mit einem falschen Knopfdruck zu einem überdimensionierten Briefbeschwerer wird, bis der Verwandte mit Computerkenntnissen wieder vorbeischaut.
Apple hat mit dem iPad, und iOS allgemein, ein Computersystem geschaffen, das vom Mainstream nutzbar ist: Der Appstore ist der sichere, weil von Apple kontrollierte, Distributionskanal für Apps. Gemeinsam mit dem Sandboxing der Apps ist das Ergebnis ein Computer, auf dem man das System nicht kaputt machen kann, egal wie wenig Ahnung man von Computern hat.
Hand hoch: Wer kennt Rentner, die sich zum ersten Mal einen Rechner kaufen und dann anfangen, dort regelmäßig neue Programme zu installieren? Oder noch besser: Wer kennt langjährige Computernutzer ohne Nerdallüren, die regelmäßig auf ihrem Windowsrechner neue Programme ausprobieren? Welcher Windowsnutzer macht das überhaupt noch?
Ein sicheres, einfach zu bedienendes Computersystem mag dem Nerd Handlungspielräume wegnehmen, aber es gibt aus dem gleichen (!) Grund dem Nutzer mit weniger Fachkenntnis mehr Handlungsspielraum, weil die Gefahr, etwas versehentlich kaputt zu machen, minimiert bis eliminiert wird.
Natürlich ist das eine Revolution, die für Computernutzer (für die meisten von ihnen sogar) eine Freiheit bringt, die sie nie bei Windows oder selbst Mac OS X erlebt haben.
Und solange Betriebssystemalternativen zur Verfügung stehen und miteinander konkurrieren können, gibt es auch kein Problem: Jeder kann wählen, ob er mehr Sicherheit oder mehr Bastelkram will.
Das iPhone, das wie das iPad zum die User knechtenden iOS-Regime gehört, führt mittlerweile zu folgenden Szenen:
Rentnerinnen unterhalten sich in der Bahn über Webdienste und Apps. „Apple Appstore. Musst du auch bei dir haben. Ich weiß aber nicht wo.“
— Marcel Weiss (@marcelweiss) May 4, 2012
Ich wäre gern dabei, wenn Sascha Lobo diesen älteren Damen erklärt, warum ihre neu gewonnene Freiheit eigentlich gar keine ist. Vielleicht sind sie ja nur auf Steve Jobs‘ Neusprech-Propaganda hereingefallen?
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Disclosure: Ich halte einige wenige Apple-Aktien. Nicht zuletzt, weil ich glaube, dass in ein paar Jahren für die Mehrheit der Bevölkerung die primären Computer Tablets, und da die Mehrheit wiederum iPads, sein werden.
Carsten Pötter says
So richtig Deine Argumente bzgl. der einfachen Nutzung des iPad und der Rentner auch sein mögen (hoffe ich jedenfalls, ich habe keines), so sehr ist Jobs‘ Aussage natürlich Neusprech. Denn wenn Deine Interpretation seine Intention gewesen ist, dann hätte er das auch geschrieben und Apple hätte das in seiner PR sehr deutlich heraus gestellt.
joschi says
Den zweiten Teil des Satzes „Und zwar die Freiheit von Schadprogrammen und von Pornografie.” blendest du bei deiner Replik scheinbar absichtlich aus.
Natürlich wäre es schön, wenn Benutzer sich um Schadprogramme und deren
Auswirkungen keine Gedanken machen müssten. Dass dem, auch bei
abgeschotteten Systemen wie Apples IOS trotzdem nicht der Fall ist, muss
man hoffentlich nicht dazu schreiben.
Allerdings ist es keine Freiheit mehr, wenn Apple mir als Benutzer
vorschreiben will, welchen Content ich auf meinen Geräten konsumieren
will. Und wenn das pornographische Inhalte sind, dann ist das bitte sehr
meine private Angelegenheit.
Von daher ist die Aussage von Steve Jobs *natürlich* eine Art von
Neusprech in genau der Art und Weise wie sie George Orwell in 1984
beschrieben hat.
David Prochnow says
Gerade im technischen Bereich müssen positive und negative Freiheit ( http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit#Positive_und_negative_Freiheit )kein Gegensatzpaar sein.
In meinem „alternativen“ Bekanntenkreis (Menschen, die im Bauwagen leben, ihr eigenes Gemüse anbauen, Schafe hüten und sowas… keine besonders technikaffine Benutzergruppe also) etwa, setzen sich seit einigen Jahren Ubuntu und Ubuntuderivate mehr und mehr als System der Wahl durch, das auf Windows-Rechnern installiert wird, die eh mal wieder neuaufgesetzt werden müssen. Sicher auch, weil Linux immer ein bisschen den Ruf des nichtkommerziellen, alternativen Systems hat, klar, aber eben auch, weil Gnome2/3, Unity und Co. inzwischen ultrasimpel zu bedienende Systeme sind, die auch auf ebene des GUIs durchaus mit Windows und OS X mithalten können (sieht man mal von der Marktpenetration und damit der angebotenen professionellen Software ab) .
Wer also nicht groß mit der Technik herumspielen will, sondern einfach nur ein System haben möchte, das läuft, kommt also auch ohne Apple aus, hat dann aber dennoch ein System, das frei im Sinne von „free speech“ ist.
(Dass es das mittelfristig auch auf Tablets geben wird, halte ich für wahrscheinlich.)
Maecenas says
Appstores sind ein revolutionär einfaches Konzept zur Installation neuer
Anwendungen und gerade für nicht technische User dem Windows-EXE-Chaos
haushoch überlegen. Und ja, sie machen die Möglichkeiten von Computern
vielen erstmals praktisch zugänglich.
Deshalb finden sie sich inzwischen ja auch praktisch in jedem anderen
System – Android hat genauso einen Appstore („Google Play“) wie iOS,
Ubuntu hat dem klassischen Linux-Paketmanagement ein
benutzerfreundliches Frontend spendiert, sogar Windows 8 bekommt so
etwas.
Es gibt im Grunde nur zwei wesentliche Unterschiede zwischen diesen
Beispielen und Apples Angebot. Erstens: Dort mag der Appstore zwar der
Default sein und die von dir beschworenen Rentner brauchen nie über die
Alternativen nachzudenken oder überhaupt davon erfahren, aber man *kann*
sich eben auch ganz regulär entscheiden, andere Quellen für Anwendungen
zu nutzen. Und zweitens nutzen die anderen Anbieter ihre
Torhüter-Funktion fairer und weisen nicht einfach Anwendungen aus
Gründen zurück, die mehr mit den eigenen Interessen als denen des Kunden
zu tun haben (z.B. Produkte, die mit denen aus dem eigenen Haus
konkurrieren).
Meiner Meinung nach tragen diese beiden Aspekte nur wenig an „Freiheit“
(besser bekannt als Sicherheit) für Nutzer bei, sind aber für einen
Großteil des Verlusts an Freiheit für eigenverantwortliche Nutzer
verantwortlich. Insofern trifft die Kritik eben doch voll ins Schwarze.
Marcel Weiss says
„Ubuntu hat dem klassischen Linux-Paketmanagement ein benutzerfreundliches Frontend spendiert,“
Ja, das dürfte die größte Usabilityleistung von Ubuntu für Linux sein. Kann man gar nicht überschätzen, was das für einen potentiellen Mainstreamerfolg bedeutet.
Watt dem een sin Uhl says
Bei dem Satz mit dem Hund habe ich gestern laut aufgelacht. Jetzt dachte ich, der Artikel bezieht sich eben auf diese Kritik, aber es ist anders herum.
Ich sehe es wie Lobo, ein systematischer Zwang kann keine Freiheit sein, egal aus welcher Motivation er entsteht. Apple baut mit jeder Gerätegeneration mehr an der geschlossenen Plattform, hardware- wie softwareseitig.
Wenn der Vergleich erlaubt ist: In der DDR waren wir auch vielfach frei: Frei von Rowdytum und Drogenkonsum, von Konsum überhaupt. Frei von Gewinnstreben, frei von westlichen Ideologien, kapitalistischem, verführerischen Gedankengut. Das Politbüro hat uns frei gemacht.
Watt dem een sin Uhl says
PS: Auch in der politischen Diskussion um innere Sicherheit und „Terrorismusbekämpfung“ steht das Argument Sicherheit immer dem der Freiheit diametral gegenüber. Auch wenn Politiker uns immer von der Wichtigkeit überzeugen wollen – Freiheit entsteht durch Sicherheitsbestrebungen nicht. Sondern: Überwachung, Datenspeicherung, Auswertung, Kontrolle, Bevormundung.
Marcel Weiss says
DDR-Bürger konnten nicht zwischen verschiedenen Regimes auswählen. Wer die Architektur von iOS blöd findet, kann etwas anderes wählen.
Marcel Weiss says
Ja, Ubuntu ist super. Unity ist eine gute GUI und das Software Center hat vieles enorm vereinfacht. Aber ohne Kontrolle von Canonical und Sandboxing wird Ubuntu nicht so sicher sein, wie ein vergleichbares System, bei dem das gemacht wird. Das ist auch ok, aber es gibt eben für jede Richtung Vor- und Nachteile.
Marcel Weiss says
Warum ich nicht auf den Porno-Spruch eingegangen bin: a.) Ich weiß nicht, was in Jobs‘ Kopf vor sich ging und es ist mir herzlich egal. Auch Jobs hat gern Quatsch erzählt. b.) Es spielt für das Schadprogrammargument keine Rolle und c.) egal was Jobs gesagt hat, man kann auf iPads sehr gut Pornos konsumieren.
Es gibt nur keine Pornoapps in Apples Appstore. Gibt es die in Googles Play-Store? Im Appstore von Amazon? Im Appstore von Windows Phone? Im Appstore von webOS? Im Appstore von RIM?
Marcel Weiss says
Und dass Autofahrer nicht wissen müssen, was unter der Motorhaube abgeht, ist sicher auch irgendwie mit der Terrorismusdebatte verbindbar.
Marcel Weiss says
Ich glaube, dass Apple das macht und ich glaube, dass nicht wenige Leute das immer missverstehen werden, weil sie nicht anders können. Consumerhightech war immer Bastelkram, der leicht kaputt gehen konnnte. Das geht zu Ende, weil sich der Markt ausdifferenziert. Das ist nicht schlecht, sondern gut.
Carsten Pötter says
Ja, das ist gut.
Carsten Pötter says
Naja, ich habe mir die Apps nicht im Einzelnen angesehen, d.h. installiert, aber im Play Store fallen schon viele Apps unter das, was zumindest in den USA unter Pornografie verstanden wird.
Marcel Weiss says
Jetzt weiß ich auch, warum es so große Androidtelefone gibt.
Watt dem een sin Uhl says
Selbst wenn ich hätte wählen können, wo ich lebe, hätte es aus diesem Staat keinen freiheitlichen gemacht. Nenn es meinetwegen selbstbestimmte Unmündigkeit, Freiheit ist etwas anderes als zu sagen: „Wenn Dir hier nicht gefällt, hau doch ab!“ Apple, Google, Facebook – alle die Konzerne bauen doch daran, die Nutzer möglichst abhängig von ihrem Produkt zu machen. Geschlossene Systeme, geschlossene Schnittstellen. Nicht offene und durch Patente geschützte Wirkmechanismen. Da greift ein „Wenns-dir-nicht-gefällt“ einfach nicht. Denn diese Entscheidung stellt sich allenfalls am Anfang eines Nutzungsprozesses.
Watt dem een sin Uhl says
Sorry, verstehe ich jetzt gerade nicht, den zynischen Kommentar. Mein Argument war, dass „Schutz“ vor „Schaden“, Porno und den Lastern der westlichen Gesellschaft wohl eher der Ecke Sicherheit, als der Ecke Freiheit zuzuordnen ist.
„Du bist hier sicher“, „Deine Kinder sind hier sicher“, „Dein OS ist eine einzige Wohlfühloase, die alles Schädliche von Dir abwendet“. Doppelplusgut halt :)
Marcel Weiss says
Es führt zu größerer persönlicher Freiheit, Autos benutzen zu können, obwohl ich nur geringes (sehr geringes) Wissen darüber habe, wie Autos funktionieren. Möglich ist das, weil Autos vertikal integriert sind und stark kontrolliert werden von den Herstellern: Du kannst nicht die Karosse von A und den Motor von B kaufen und das dann zusammenstecken. Wahrscheinlich würde es zu mehr Innovation führen, aber so ist es aktuell nun einmal nicht. iOS ist wie ein Auto, das man benutzen kann, ohne wissen zu müssen, was unter der Motorhaube vorgeht. Windows, Linux, Android und Mac OS sind wie Autos, für deren alltägliche Benutzung man mindestens Hobby-Automechaniker sein muss.
Es ist immer die Frage, welche Vorteile und Nachteile Modularisierung und vertikale Integration jeweils haben.
A priori Wertungen a la ‚XY ist wie Terrorismusbekämpfungsaktionismus‘ führt nicht zu Erkenntnisgewinn, sondern nur zum Suhlen in den eigenen Vorurteilen.
Watt dem een sin Uhl says
Nunja, und der toll vertikal integrierte Sportwagen von Apple fährt leider aber nur in der Innenstadt und „heiße Bräute“ darf man damit natürlich auch nicht mitnehmen, weil sich das nicht ziemt… Ich merk schon, die Diskussion führt nirgendwo hin. Erst recht nicht mit Analogien. Fazit: Mein Freiheitsbegriff sieht anders aus, als sich von einer Plattform abhängig zu machen.
Marcel Weiss says
Wie weit würde Apple mit so einem Sportwagen auf einem freien Markt kommen? Eben.
Watt dem een sin Uhl says
Ein Markt ist nur so frei, wie ihn Monopolisten nicht beherrschen. Man kann es natürlich auch in Neusprech „besetzte Nische“ nennen. Aber Beispiele wie das mit den alten Damen zeigen: Die Menschen machen sich abhängig, wenn sie sich Vorteile versprechen (lassen). Dass dieser Schritt fatal sein kann, sehen sie oft nicht. Das mag eine freie Entscheidung sein, die Abhängigkeit macht es noch lange nicht zur Freiheit. Aber von den geschlossenen Plattformen habe ich oben schon geschrieben.
Marcel Weiss says
Wo ist hier ein Monopolist?