Der Kindergeburtstag in Sachen Internet ist vorbei. Wikileaks greift die etablierten Strukturen mit bisher ungekannter Stärke an und zeigt, zu was das Internet in der Lage ist oder was es anrichten kann; je nachdem, wie man es sieht.
5 Aspekte der aktuellen WikiLeaks-Revolution:
Reaktionen: (journalistische) Institutionen statt (journalistische) Kulturpraktiken
Ausgesprochen bemerkenswert an der aktuellen Diskussion ist, wie schwer es vielen Journalisten und Redakteuren zu fallen scheint, mitanzusehen, wie eine wichtige Aufgabe ihrer Profession von einer Outsider-Organisation wahrgenommen wird.
Viele, hierzulande und in den USA , sind nicht in der Lage oder nicht willens, die gesellschaftliche Aufgabe (Journalismus bzw. das Informieren der Öffentlichkeit) von den sie ausübenden Organisationen (früher nahezu ausschließlich Presseverlage und andere journalistische Institutionen, mittlerweile u.a. auch Blogger und Wikileaks) zu trennen.
Das ist insofern bedauerlich, als dass die Rolle von WikiLeaks nicht nur wichtiger als die der exklusiv beteiligten Medien ist, sondern WikiLeaks auch leichter als noch recht frischer Aussenseiter im Medienzirkus angegriffen werden kann, ohne dass die Angreifer sich mit der Pressefreiheit auseinandersetzen müssen; denn es ist letztlich alles eine Frage der Definition.
Im Guten wie im Schlechten filtert die New York Times (NYT) etwa mehr und klärt vorher mit der US-Regierung, ob sensitive Daten veröffentlicht werden dürfen. Ist das besser oder schlechter als das unkontrollierbare Verhalten von Wikileaks (Das bei den US-Depeschen gar nicht so unkontrolliert ist)? Das ist vielleicht die Gretchenfrage. Auf jeden Fall scheint es die NYT in sicheres rechtliches Gewässer zu manövrieren.
Deshalb greift die US-Regierung WikiLeaks an und nicht etwa die NYT (oder den Guardian, der die Depeschen an die NYT weiterleitete, oder den Spiegel): Die Rolle der NYT ist zum einen kontrolliert und zum anderen austauschbar. WikiLeaks hätte mit der Washington Post oder der LA Times zusammenarbeiten können. Der Guardian hätte die US-Depeschen statt an NYT auch an LA Times oder Washington Post weiterleiten können.
WikiLeaks selbst dagegen ist der Akteur in der Geschichte, der gefährlich, weil unkontrollierbar ist und deswegen ausgeschaltet werden muss. (So zumindest das Denken in der US-Administration. Wie wir unter Punkt 2 sehen werden, geht es aber eher um das Internet als Ganzes denn um WikiLeaks im Einzelnen.)
Die aktuell stattfindenden Vorgänge könnten auch traditionelle Presseverlage oder andere etablierte journalistische Institutionen treffen:
One wonders if Lieberman feels that he, or any Senator, can call in the company running The New Yorker’s printing presses when we are preparing a story that includes leaked classified material, and tell it to stop us. The circumstances are different, but not so different as to be really reassuring.
[Während ich den Artikel schrieb, verkündete US-Senator Joe Lieberman an, dass er auch eine Ermittlung gegen die NYT sehen möchte.]
Warum würde das aber wohl nie passieren? Der kollektive Aufschrei der kompletten westlichen Presse wäre wohl sicher. Es würde keine Frage geben: Das ist ein Angriff auf die Pressefreiheit. Der gleiche Vorgang bei WikiLeaks scheint für viele ok zu sein, weil WikiLeaks 'lediglich' keine allgemein anerkannte journalistische Organisation ist (weil ihr Vorgehen relativ neu ist) und weil sie weit mehr Informationen veröffentlichen, als vielen lieb ist.
Man kann es auch direkter formulieren: Die Tatsache, dass WikiLeaks aktuell so vehement von allen Seiten angegriffen werden kann und etwa die finanziellen Transaktionsmöglichkeiten abgeschnitten werden können, ist nur möglich, weil nicht die komplette Presse hinter WikiLeaks steht, wie sie hinter einer NYT oder einem Guardian stehen würden, deren Bankkonten plötzlich überall aufgelöst würden.
Ob man das Vorgehen von WikiLeaks für richtig hält oder nicht: Das Vorgehen der USA, jedes Unternehmen mit Einschüchterung zum Abbruch der Beziehungen zu WikiLeaks zu bewegen, ist ohne gesetzliche Grundlage weder demokratisch und noch rechtens .
Was wäre passiert, wenn der Informant mit den Dokumenten nicht zu Wikileaks sondern etwa zur New York Times gegangen wäre?
- Die NYT hätte die Rohdaten, also die Dokumente selbst, nicht veröffentlicht. Maximal Zitate und Absätze wären veröffentlicht worden. Der Rest wäre über Nacherzählungen in Artikel eingeflossen.
- Die NYT hätte nur Inhalte veröffentlicht, die sie nicht in Bedrängnis mit der US-Regierung bringt. Ein Großteil der geleakten Inhalte wäre also unter Verschluss geblieben.
- Es hätte ein allgemeines Loblied in den westlichen Medien auf den noch immer starken investigativen Qualitätsjournalismus gegeben.
Die Unterschiede zur WikiLeaks-Herangehensweise sind offensichtlich: Geringere Radikalität, größere Sicherheit der Organisation gegenüber Bedrängnis durch die US-Administration. (Die Ironie dabei:Die NYT und jedes andere etablierte journalistische Medium wäre a priori, wie oben ausgeführt, zumindest ein bisschen sicherer vor (ungesetzlichen) Massnahmen gewesen als der Aussenseiter WikiLeaks. Trotzdem ist es höchst wahrscheinlich, dass sie sich selbst weniger erlauben würden, wenn sie die Wahl hätten. (Und deswegen gibt es WikiLeaks überhaupt.))
Die Reporter ohne Grenzen verurteilen das Vorgehen gegen WikiLeaks zu Recht:
RoG sagt, zum ersten Mal sehen sie den Versuch der internationalen Gemeinschaft, eine Webseite zu zensieren, welche zu den Prinzipien der Transparenz steht. „Wir sind über Länder wie Frankreich und den Vereinigten Staaten schockiert, die plötzlich ihre Regeln über die Meinungsfreiheit auf das gleiche tiefe Niveau wie das von China senken. Wir möchten darauf hinweisen, dass in Frankreich und den USA ist es die Aufgabe der Gerichte und nicht der Politiker zu entscheiden, ob eine Webseite geschlossen werden darf oder nicht.“
WikiLeaks ist eine neue Art von Publisher. WikiLeaks ist eine journalistisch tätige Organisation:
Why should we care about any of this? Because more than anything else, WikiLeaks is a publisher — a new kind of publisher, but a publisher nonetheless — and that makes this a freedom of the press issue. Like it or not, WikiLeaks is fundamentally a journalistic entity, and as such it deserves our protection.
Viele Journalisten aber sehen WikiLeaks nicht als einen der ihren an, was nachvollziehbar ist. Sie sehen dann aber auch nicht, dass der Vorgang sie auch betrifft: Jemand veröffentlicht Informationen, die von mächtigen Akteuren wie Regierungen nicht öffentlich gesehen werden wollen, an denen aber offensichtlich breites Interesse herrscht. Und dieser Jemand wird deswegen von diesen Akteuren massiv unter Druck gesetzt. Ist das Bereitstellen der Informationen nicht eine der ursprünglichen Aufgaben des Journalismus gewesen? Kann dieser unter Druck gesetzte Jemand nicht auch leicht die New York Times oder der Spiegel sein?
Siehe hierzu auch die Ausführungen von Hans-Martin Tillack vom Stern.
WikiLeaks als ein Symptom der vernetzten Informationsgesellschaft wird nicht wieder verschwinden
Aktuell existieren über 1000 Mirrors der Wikileaks-Seite.
Die über WikiLeaks veröffentlichten Dokumente werden über BitTorrent verbreitet. Die WikiLeaks-Seite selbst ist kaum mehr als ein Schaufenster, sie ist nicht das Ladengeschäft selbst.
WikiLeaks ist hier und geht nicht wieder weg. Oder, wenn es verschwinden sollte, wird WikiLeaks das Schicksal mit Napster teilen: Unzählige, dezentralere Nachkommen, die schwerer kontrollierbar sind. (Neben dem bestehenden Cryptome plant der ehemalige Sprecher von Wikileaks, Daniel Domscheit-Berg, seine eigene Leak-Site . Das dürfte erst der Anfang sein.)
Dass WikiLeaks nicht mehr verschwinden kann, ist nicht allein Wunsch radikaler Hacker :
It seems to me that at the end of this chain is BitTorrent. That when WikiLeaks wants to publish the next archive, they can get their best practice from eztv.it, and have 20 people scattered around the globe at the ends of various big pipes ready to seed it. Once the distribution is underway the only way to shut it down will be to shut down the Internet itself. Politicians should be aware that these are the stakes.
Das ist auch mehr oder weniger Konsens bei den Publikationen, die sich nicht nur oberflächlich mit WikiLeaks auseinandersetzen:
But politicians now face an agonising dilemma. The old, mole-whacking approach won't work. WikiLeaks does not depend only on web technology. Thousands of copies of those secret cables – and probably of much else besides – are out there, distributed by peer-to-peer technologies like BitTorrent. Our rulers have a choice to make: either they learn to live in a WikiLeakable world, with all that implies in terms of their future behaviour; or they shut down the internet. Over to them.
If Mr Assange is murdered tomorrow, if WikiLeaks' servers are cut off for a few hours, or a few days, or forever, nothing fundamental is really changed. With or without WikiLeaks, the technology exists to allow whistleblowers to leak data and documents while maintaining anonymity. With or without WikiLeaks, the personel, technical know-how, and ideological will exists to enable anonymous leaking and to make this information available to the public. Jailing Thomas Edison in 1890 would not have darkened the night.
Im New-Yorker-Porträt über Assange heißt es:
Assange calls the site “an uncensorable system for untraceable mass document leaking and public analysis,” and a government or company that wanted to remove content from WikiLeaks would have to practically dismantle the Internet itself.
WikiLeaks mag am immer am Rande des Abgrunds agieren.Wie sehr WikiLeaks am Rande des Abgrunds operiert, wird vielleicht im Assange-Porträt des New Yorkers klar, das im Juni dieses Jahr erschien:
Assange was sitting opposite Rop Gonggrijp, a Dutch activist, hacker, and businessman. Gonggrijp—thin and balding, with a soft voice—has known Assange well for several years. He had noticed Assange’s panicky communiqués about being watched and decided that his help was needed. “Julian can deal with incredibly little sleep, and a hell of a lot of chaos, but even he has his limits, and I could see that he was stretching himself,” Gonggrijp told me. “I decided to come out and make things sane again.” Gonggrijp became the unofficial manager and treasurer of Project B, advancing about ten thousand euros to WikiLeaks to finance it. He kept everyone on schedule, and made sure that the kitchen was stocked with food and that the Bunker was orderly.
Aber: WikiLeaks hat den Vorteil, die Dezentralisierungsmöglichkeiten des Webs zu nutzen. Denzentrales lässt sich schwer abschalten. Das sieht man nicht nur an al-Qaida sondern auch an Filesharing-Protokollen wie BitTorrent.
Grundsätzlich lassen sich viele Parallelen zum Filesharing ausmachen:
- Die Verteidigungsmassnahmen richten sich gegen den ersten Vertreter der neuen Art, im Irrglauben es wäre eine Anomalie. (Damals Napster, heute WikiLeaks)
- Selbst wenn dieser erste Vertreter vom Netz gehen sollte, verschwindet die zugrunde liegende Tätigkeit nicht wieder. Filesharing starb nicht mit Napster. Das Leaken geheimer Dokumente im (für unsere heutigen Verhältnisse) großen Stil würde auch mit dem Sterben von WikiLeaks nicht verschwinden.
- Filesharing wie das Veröffentlichen von geheimen Dokumenten a la WikiLeaks sind neue Formen des Umgangs mit Informationen, die durch das Internet ermöglicht wurden.
- Beides wird nicht wieder verschwinden. Genauer: So lang es ein freies Internet gibt, in dem Bürgerrechte gelten, wird es Filesharing und eine Art von WikiLeaks geben.
Our rulers have a choice to make: either they learn to live in a WikiLeakable world, with all that implies in terms of their future behaviour; or they shut down the internet.
Der Ansatz von Assange und WikiLeaks zielt auf unsere aktuelle Zeit des Übergangs
Einige haben mit Widerwillen angemerkt, dass Assange und WikiLeaks das Veröffentlichen der diplomatischen US-Berichte wie ein Theaterstück inszenieren. Das ist richtig. Warum machen sie das? Sie haben das Internet! Sollen sie doch alles einfach veröffentlichen.
Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs in der neue Medienformen (WikiLeaks, Blogs, Online-Aggregatoren) und die alten Medienformen und ihre Organisationen parallel existieren.
WikiLeaks hat den perfekten Ansatz gefunden, um heute die Wirkung zu maximieren. Sie arbeiten exklusiv mit Medien zusammen, so dass diese mit einem bestimmten ROI dank Zeitvorsprung rechnen können. WikiLeaks arbeitet mit der Tatsache, dass Platz in Tageszeitungen und auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit begrenzt sind. Anstatt also alle Depeschen sofort zu veröffentlichen und zu riskieren, dass dank der Masse nur ein Bruchteil überhaupt wahrgenommen wird, gibt es einen rigorosen Veröffentlichungsplan, der auch so funktioniert, wie er soll:
WikiLeaks und die US-Depeschen sind seit Tagen in den Medien. Das ist angesichts der Aufmerksamkeitsspanne der etablierten westlichen Medien eine beachtliche Leistung.
Ein vorheriger Ansatz von WikiLeaks hat nicht funktioniert:
In 2007, he published thousands of pages of secret military information detailing a vast number of Army procurements in Iraq and Afghanistan. He and a volunteer spent weeks building a searchable database, studying the Army’s purchasing codes, and adding up the cost of the procurements—billions of dollars in all. The database catalogued matériel that every unit had ordered: machine guns, Humvees, cash-counting machines, satellite phones. Assange hoped that journalists would pore through it, but barely any did. “I am so angry,” he said. “This was such a fucking fantastic leak: the Army’s force structure of Afghanistan and Iraq, down to the last chair, and nothing.”
Bei etablierten Medien arbeitende Journalisten, so scheint es, wollen mehrheitlich nicht brisante Daten in leicht auswertbarer Form, sondern eine attraktive Narration; und Exklusivität.
WikiLeaks beschleunigen mit diesem wirkungsmaximierenden Vorgehen einen Vorgang, der auch ohne sie oder ohne diesen Ansatz stattfinden würde ; er wäre nur eben langsamer.
Was wir hier erleben, dürfte aller Voraussicht nach eine historische Anomalie sein. WikiLeaks ist aktuell die einzige Organisation, an die sich Informanten wenden können und deren Bekanntheitsgrad groß genug ist, dass potentielle Personen übehaupt auf die Idee kommen, das zu tun. Wie in Punkt 2 ausgeführt, wird es bald einige WikiLeaks-Konkurrenten geben, die sich etwa auch der Dokumente annehmen können, die jetzt bei WikiLeaks aufgrund der größeren Geschichten unter den Tisch fallen.
In ein paar Monaten oder Jahren wird die Situation dann so aussehen: Informanten übergeben ihre Dokumente, die sie unbedingt in der Öffentlichkeit sehen wollen, gleichzeitig an verschiedene konkurrierende Leak-Organisationen.
Ein Orchestrierung, wie wir sie gerade miterleben, wird dann nicht mehr möglich sein. Stattdessen konkurrieren die Leak-Organisationen dann untereinander darüber, wie viel sie gewillt sind, zu veröffentlichen. (Mögliche neue Regelwerke und ihre Durchsetzbarkeit einmal außen vorgelassen.)
Assanges Tage in Freiheit sind waren gezählt. In der Zwischenzeit will wollte er so viel wie möglich erreichen. (Der Guardian hat ein Liveblog eingerichtet, auf dem über aktuelle Entwicklungen wie z.B. Assanges Verhaftung berichtet wird.)
Assanges und WikiLeaks öffentlichkeitsmaximierende Radikalität hat die Grenzen von Unternehmen aufgezeigt. Wie es jemand auf Twitter formulierte: "For freedom of speech, there's #wikileaks. For everything else, there's #Mastercard. And #Visa. And, um, #Paypal. And #Amazon. And..." (Und dass man mit PayPal den Ku Klux Klan aber nicht WikiLeaks unterstützen kann, spricht auch Bände.)
Das wird den öffentlichkeitsträchtigen Boykott-Ausrufen zum Trotz keine nennenswerten Auswirkungen auf die Unternehmen haben. Aber einige Aktivisten auf der ganzen Welt werden jetzt anfangen, sich zu überlegen, wie man eine wikileakable Infrastruktur auf allen Ebenen möglichst dezentral und sicher vor solchen Übergriffen aufbauen kann. Alternativen sind gefragt.
Das ist genau das, was Assange und WikiLeaks unter anderem wohl mit ihrem Frontalangriff auf die USA und andere Regierungen im Hinterkopf hatten. Angesichts des diesjährigen Dauerfeuers an geleakten Dokumenten, das anscheinend kein Ende nimmt, müssen die Reaktionen auf allen Seiten mehr oder weniger vorhersehbar gewesen sein.
Allein der kurzzeitige Wechsel zu Amazons S3, also zu einem US-amerikanischen Cloud-Computing-Anbieter, lässt sich nur damit erklären, dass WikiLeaks möglichst gut sichtbar machen wollte, dass man sich eben nicht auf Hoster jeder Art verlassen kann. Anders ergibt dieser Schritt keinen Sinn, der wohl kaum hohen organisatorischen Aufwand bedeutet haben wird. (Brisant ist das vor allem, weil immer mehr Startups, auf deren Plattformen Kommunikation stattfindet, s3 für Hosting einsetzen.)
Alles vielleicht ein Theaterstück. Aber wie ein gutes Theaterstück zeigt uns WikiLeaks mit den provozierten Reaktionen der Unternehmen und Regierungen die wahre Welt.
WikiLeaks als ein Ergebnis kleinteiligerer Arbeitsteilung
WikiLeaks und die anderen Leak-Organisationen sind Teil einer Entwicklung, die man in vielen Bereichen beobachten kann: Das Internet erlaubt, unter anderem dank radikal gesunkener Transaktionskosten, kleinere Organisationseinheiten und eine kleinteiligere Arbeitsteilung weil die Zusammenarbeit über das Web, also organisationsextern, einfacher wurde.
WikiLeaks operiert zwischen Informanten und traditionellen Medien. Mit seinen Mitarbeitern und Helfern kann es sich darauf konzentrieren, möglichst anonym und sicher für Informanten brisante Dokumente entgegen zu nehmen. (Gleichzeitig können sich Experten intern leichter einbringen.) WikiLeaks agiert quasi als Proxy des Informanten gegenüber Medien und Öffentlichkeit. Technische Expertise ist nicht zwingend eine Kernkompetenz von klassischen Medienorganisationen. Und das muss sie jetzt auch nicht mehr sein.
Dass diese kleinteiligere Arbeitsteilung in diesem Fall effizienter ist, dürfte nach den Veröffentlichungen dieses Jahr niemand mehr anzweifeln.
The idea that Wikileaks is a threat to the traditional practice of reporting misses the point of what Assange and his co-workers have put together - a powerful tool that can help reporters circumvent the legal barriers that are making it hard for them to do their job. Even as he criticizes the evident failures of the mainstream press, Assange insists that Wikileaks should facilitate traditional reporting and analysis. "We're the step before the first person (investigates)," he explained, when accepting Amnesty International's award for exposing police killings in Kenya. "Then someone who is familiar with that material needs to step forward to investigate it and put it in political context. Once that is done, then it becomes of public interest."
Julian Assange gegenüber The Atlantic im Juli :
Assange told me, “I want to set up a new standard: ‘scientific journalism.’ If you publish a paper on DNA, you are required, by all the good biological journals, to submit the data that has informed your research—the idea being that people will replicate it, check it, verify it. So this is something that needs to be done for journalism as well. There is an immediate power imbalance, in that readers are unable to verify what they are being told, and that leads to abuse.”
But, in the Bunker one evening, Gonggrijp told me, “We are not the press.” He considers WikiLeaks an advocacy group for sources; within the framework of the Web site, he said, “the source is no longer dependent on finding a journalist who may or may not do something good with his document.”
Natürlich stellt sich die Frage, ob und inwiefern Wikileaks und die anderen neuen Leak-Organisationen neuen Regeln und Gesetzen unterworfen werden sollten, wie es Clay Shirky fordert .
Ist Wikileaks so anders, als dass es neue Regeln braucht? Ist die etablierte Presse einfach nur zu brav geworden? Und was lässt sich überhaupt noch durchsetzen?
WikiLeaks ist die bis dato größte Belastungsprobe für die Gesellschaft im Internet-Zeitalter
Assanges Ansatz (siehe 3.) ist so erfolgreich, dass wir mindestens die nächsten Monate, wahrscheinlich aber Jahre, mit den konkreten Auswirkungen zu tun haben werden. Und darüber hinaus mit der folgenden Gesetzgebung.
What the attacks on WikiLeaks tell us:
[..]
Thirdly, the attack of WikiLeaks ought to be a wake-up call for anyone who has rosy fantasies about whose side cloud computing providers are on. The Terms and Conditions under which they provide both ‘free’ and paid-for services will always give them with grounds for dropping your content if they deem it in their interests to do so. Put not your faith in cloud computing: it will one day rain on your parade.
Große internationale Firmen trennen die Verbindungen mit WikiLeaks (Amazon, EveryDNS.net, PayPal, Visa, Mastercard, Post Finance). Das dürfte vielen die Augen geöffnet haben. Was wiederrum dazu führt, dass standfestere Alternativen gesucht und notfalls geschaffen werden müssen. Es ist nicht abwegig, anzunehmen, dass das ein Ziel von WikiLeaks und Assange war. Ein weiteres Ziel, relativ offensichtlich aus Assanges in den letzten Jahren veröffentlichten Texten herauslesbar, ist die zukünftige Erschwerung der Kommunikation von privaten staatlichen Gruppen. Machtmissbrauch soll schwerer werden:
The basic point is not to necessarily expose any specifically damaging information (and many have argued that nothing all that surprising has been exposed in this latest dump), but to reduce the ability of governments to communicate secretly -- because when you allow widespread communication by governments in secret, "conspiracies" form. That word is quite loaded, so I'm not sure it's really the best word to use. Perhaps a better way of thinking about it is that if larger groups within the government feel that they can act without oversight, they are much more likely to do things they would never do with oversight. By regularly leaking information -- even banal information -- the response is to clamp down on information sharing within the government. And, in fact, that's exactly what the federal government is doing.
Das 'Geschäftsmodell' von WikiLeaks, auch interessant vor dem Hintergrund des Medienwandels, sind Spenden: Die Veröffentlichung des Collateral-Murder-Videos hat WikiLeaks 200.000 US-Dollar eingebracht.
Ich bin mir nicht sicher, inwiefern WikiLeaks und vergleichbare Organisation von außen kontrolliert und im Zaum gehalten werden können. Der Hau-Ruck-Ansatz von WikiLeaks dieses Jahr hat aber unmissverständlich allen klar gemacht, dass sich hier etwas grundlegend geändert hat. Die Bestrebungen zur umfassenden Kontrolle und der Unterbindung, dass das wieder geschieht, sind vorhersehbar und meines Erachtens mehr oder weniger nutzlos. (siehe die Analogien zum Filesharing)
Wie die Regierungen der Welt damit umgehen, und was die Bürger und Medien ihnen an (Gegen-)Massnahmen durchgehen lassen werden, wird darüber entscheiden, wie die Gesellschaft im 21. Jahrhundert aussehen wird.
WikiLeaks hat auch den letzten Unwilligen aus den westlichen oberen Etagen in das 21. Jahrhundert geschubst.
Die Revolution hat 2010 begonnen.
This is a revolution, and all revolutions create fear and uncertainty. Will we move to a New Information Enlightenment or will the backlash from those who seek to maintain control no matter the cost lead us to a new totalitarianism? What happens in the next five years will define the future of democracy for the next century, so it would be well if our leaders responded to the current challenge with an eye on the future.
Die Konterrevolution auch.
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Lesenswerte Texte zum Thema WikiLeaks:
*WikiLeaks just made the world more repressive:
Ironically, WikiLeaks is inflicting the same collateral damage it so loudly abhors. The “Cablegate” release is not a real victory for a more open world. It will lead to a more closed world, where repressive governments will be more free to commit atrocities against their own people and the people who try to stop them will have even less information to help prevent this.
*Wikileaks fördert das demokratische Prinzip nicht:
Dass Wikileaks vor allem Daten aus den USA publiziert, liegt ja nicht daran, dass das Reich des Bösen in Washington liegt, sondern dass die Daten dort offenbar deutlich einfacher zu besorgen sind als in diktatorischer verfassten Systemen. Das Ergebnis: Ausgerechnet eine dynamische und relativ liberale Demokratie wird lächerlich gemacht, worüber sich die regierenden Spitzbuben der Welt verstohlen amüsieren dürften. Am Ende stehen neue, noch bizarrere Sicherheitsgesetze und mithin weniger Bürgerrechte. Paradox aber wahr: Assanges Vision von einer besseren Welt verkehrt sich ins Gegenteil: Wikileaks schwächt offene Systeme, bestärkt andererseits aber restriktive Tendenzen, in den USA wie im Rest der Welt.
The key, though, is that democracies have a process for creating such restrictions, and as a citizen it sickens me to see the US trying to take shortcuts. The leaders of Myanmar and Belarus, or Thailand and Russia, can now rightly say to us “You went after Wikileaks’ domain name, their hosting provider, and even denied your citizens the ability to register protest through donations, all without a warrant and all targeting overseas entities, simply because you decided you don’t like the site. If that’s the way governments get to behave, we can live with that.”Over the long haul, we will need new checks and balances for newly increased transparency — Wikileaks shouldn’t be able to operate as a law unto itself anymore than the US should be able to. In the short haul, though, Wikileaks is our Amsterdam. Whatever restrictions we eventually end up enacting, we need to keep Wikileaks alive today, while we work through the process democracies always go through to react to change. If it’s OK for a democracy to just decide to run someone off the internet for doing something they wouldn’t prosecute a newspaper for doing, the idea of an internet that further democratizes the public sphere will have taken a mortal blow.
*Willkommen im Informationskrieg
Man muss schon sehr naiv sein, wenn man glaubt, dass die westlichen Demokratien sich nun ausgerechnet von übereifrigen Netzaktivisten davon überzeugen lassen, die Demokratie zu stärken und mehr Informationen zu veröffentlichen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Gesetze werden verschärft, die Kontrolle des Netzes ausgebaut und die Bürgerrechte eingeschränkt werden.
*WikiLeaks: Viele offene Fragen und viele falsche Antworten
*Keine Wikileaks-Mirrors bei Hetzner
Andere deutsche Provider sind übrigens anderer Meinung, wie z.B. domainfactory.
*Das Julian-Assange-Porträt im New Yorker vom Juni 2010: A Reporter At Large: No Secrets
*Blockade-sichere Webbanner für WikiLeaks (TAZ)
*Julian Assange in The Australian:
WikiLeaks coined a new type of journalism: scientific journalism. We work with other media outlets to bring people the news, but also to prove it is true. Scientific journalism allows you to read a news story, then to click online to see the original document it is based on. That way you can judge for yourself: Is the story true? Did the journalist report it accurately?
*Warum Julian Assange ein Terrorist ist – eine Analyse
*Missing the point of WikiLeaks:
Consider what young Bradley Manning is alleged to have accomplished with a USB key on a military network. It was impossible 30 years ago to just waltz out of an office building with hundreds of thousands of sensitive files. The mountain of boxes would have weighed tons. Today, there are millions upon millions of government and corporate employees capable of downloading massive amounts of data onto tiny devices. The only way WikiLeaks-like exposés will stop is if those with the permissions necessary to access and copy sensitive data refuse to do so. But as long as some of those people retain a sense of right and wrong—even if it is only a tiny minority—these leaks and these scandals will continue.
Heute, im Internet-Zeitalter, verschiebt sich die Macht von denen, die Geheimnisse haben, zu denen, die Öffentlichkeit herstellen. Das ist die neue Realität, die gerade entsteht. Die Wirtschaft sollte gewarnt sein: Ihr seid als nächste dran.
*Hillary Clinton: Then And Now On Internet Freedoms And Censorship
Die einzige Unsicherheit wäre die Frage, ob WikiLeaks wirklich “Presse” ist. Daran besteht für mich aber kein Zweifel. Zwar beschränkt sich die Tätigkeit von WikiLeaks auf die Dokumentation. Aber gerade die Dokumentation ist eine der Kernaufgaben des Journalismus. Zudem ändern sich die Zeiten. Das Internet ermöglicht nun mal erst einen ganz neuen Journalismus durch Fakten. Denn hier gibt es anders als bei Printmedien keine Obergrenzen für die Informationsmengen und auch keine Begrenzung des Publikums. WikiLeaks hat das als erstes begriffen, es kongenial umgesetzt und sich so wahrscheinlich zum weltweit derzeit meistbeachteten und vermutlich auch wichtigsten Medium überhaupt gemacht.
[..]
Wer sich das Providerprivileg nicht selbst verhageln möchte, sollte seinem “Gast” möglichst freie Hand auf dem Server geben. Wer dagegen eigenständig entscheidet, welche Inhalte der “Gast” auf dem Server ablegen darf, macht sich durch Prüfung und Freigabe dessen Inhalte zu eigen. Das führt dann entsprechend schnell zu eigener Haftung.
*Like It or Not, WikiLeaks is a Media Entity:
The fact is that freedom of the press, like freedom of speech in general, is a crucial part of the fabric of a free society. Every action that impinges on those freedoms is a loss for society, and a step down a slippery slope — and that applies to everything that falls under the term “press,” regardless of whether we agree with its methods or its leaders. As the Electronic Frontier Foundation has pointed out, online speech is only as strong as the weakest intermediary. Any action that the government or its representatives take against a publisher like WikiLeaks should have to meet a very high bar indeed — and as Dan Gillmor argues, everyone working at the New York Times or any other media outlet should feel a shiver when they see Joe Lieberman attacking WikiLeaks, because it could just as easily be them in the spotlight instead of Julian Assange.
*WikiLeaks founder praised by Pentagon Papers exposer
In a statement, Ellsberg and associates said comparisons saying the Pentagon Papers were good while WikiLeaks' material is bad is, "just a cover for people who don't want to admit that they oppose any and all exposure of even the most misguided, secretive foreign policy. The truth is that EVERY attack now made on WikiLeaks and Julian Assange was made against me and the release of the Pentagon Papers at the time."
*Wikileaks – Substanz und Inszenierung
*How Wikileaks has woken up journalism.:
Yochai Benkler, Harvard law professor and the author of Wealth of Networks commented that he thought that the nature of the latest disclosures demonstrated that the job of the mainstream media has now become one simply of ‘amplification’. Referring to the efforts by news organisation such as the New York Times to consult with the government on which areas of the documentation to redact, Benkler added that ‘The next Daniel Ellsberg [who leaked the Pentagon Papers to the New York Times] would not risk their career, or their liberty, going to the New York Times’.
*Wikileaks' Julian Assange verhaftet (Zusammenfassung der Geschehnisse vom Perlentaucher)