25. Jan. 2019 Lesezeit: 4 Min.

Big Tech: Erzeugen Plattformen eine "Marktfiktion"?

Wir brauchen mehr Debatten über Plattformen auf hohem Niveau. Das hier ist eine davon.

Gunnar Sohn schreibt auf Netzpiloten.de über ein Buch, in dem Schumpeter auf die heutige Netzwirtschaft angewandt wird (und für das auch Sohn geschrieben hat):

Professor Becker spricht gar trefflich von der Marktfiktion, die die digitalen Plattformen erzeugen. Der Markt als sozio-kulturelle Veranstaltung verschwindet in den Untiefen der Plattform-Algorithmen. „Man mag nun angesichts des gerne beschworenen Begriffes vom ‚Digital Marketplace‘ meinen, dass Plattformen, wie Amazon, Facebook und Uber, die Funktionen des Marktes reproduziert und dazu noch zu einem größeren Angebot (durch Vergrößern des Marktes und Senken von Marktschranken), Effizienz (durch Senkung von Transaktionskosten und mehr Transparenz) geführt hätten“, so Becker. Das ist Mimikry.

Auf Chatbot- und KI- basierten Plattformen, insbesondere unter den Bedingungen von (Big-) Nudging sieht das anders aus. Es dominieren mehr oder weniger fest verdrahtete Sequenzen von Regeln, die sozio-technische Abläufe präzise strukturieren, automatisieren und/oder bewerten, um bestimmte ökonomische Ziele zu erreichen.

„Der Nutzer reagiert einseitig auf die Plattform, während auf der Plattform nur ein algorithmisches System, also in einem einseitig kontrollierten Prozess, eine Illusion wechselseitiger Kontingenz erzeugt wird, die mit einem ‚Verlust von Partitäten‘ einhergeht“, führt Becker aus.

Entscheidend ist also das Geschäftsmodell und nicht mehr, dass sich die Preise über Angebot und Nachfrage bilden, sondern von einem Algorithmus die Profitraten der Plattform durch Werbeeinnahmen oder Vertriebsprovisionen und am Ende den Shareholder-Value maximiert. Man könnte auch sagen, dass die Plattformen wie ein Schwarzes Loch den Markt ansaugen und verschlucken.


Ein spannender Blickwinkel, den ich nachvollziehen kann, dem ich aber nicht zustimme.

  • Plattformen sind Märkte. Genauer gesagt, Plattformen sind zweiseitige Märkte. (Oder, noch präziser gesprochen, Plattformen sind die Grundlage für zweiseitige Märkte und der Erfolg einer Plattform misst sich direkt daran, wie gut die zwei oder mehr Seiten das Plattformangebot annehmen.)
  • Es stimmt, dass Plattformprovider eigene Interessen verfolgen und natürlich mehr Signale als den reinen Preis einsetzen, um die zwei Seiten erfolgreich zusammenzubringen. Und natürlich spielt hier der Eigennutz des Providers eine entscheidende Rolle. Wie könnte er auch nicht? Im Grunde liegen alle Entscheidungen des Plattformproviders im Möglichkeitsraum zwischen Eigennutz des Providers und den Bedürfnissen der Akteure auf der Plattform.
  • Plattformen agieren nicht im luftleeren Raum. Es existiert Konkurrenz auf Plattformebene, also zwischen Plattformen selbst, was die Plattformprovider in ihrem Handlungsspielraum einschränkt. Indirekte Netzwerkeffekte, das definierende Merkmal zweiseitiger Märkte, führen zu Monopolsierungstendenzen. Aber Tendenzen sind weder Prophezeiungen noch Sicherheiten für die Ewigkeit. Plattformen erzeugen Märkte mit sehr eigenen Dynamiken und die Plattformprovider selbst bekommen bei Erfolg marktgestalterische Macht. Was wir bis heute aber noch gar nicht gesehen haben: Wie harter, erbarmungsloser Wettbewerb zwischen großen Plattformen aussieht. (Das stimmt nicht ganz: Der Smartphone-Markt ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Wettbewerb zwischen Plattformen auf großen Märkten aussehen kann. Voice wird das nächste Beispiel. These: Plattformwettkampf sieht in jeder Branche anders aus, weil es direkt an die fundamentalen Merkmale einer Branche und ihrer Produkte geht.) Man sollte nicht die internen Plattformdynamiken losgelöst von externen Entwicklungen betrachten.
  • Dass sich Preise jemals allein über Angebot und Nachfrage gebildet haben, ist ein neoklassischer Mythos. Asymmetrische Information und Irrationalität spielen in der Realität (neben vergleichsweise hohen Transaktionskosten vor der Ankunft des Internets) eine entscheidende Rolle. Salopp gesagt, entstehen Marktpreise in der "normalen" Wirtschaft aus groben Schätzungen auf der einen Seite und irrationalen Entscheidungen, basierend auf Viertelwissen, auf der anderen Seite. Der Marktpreis war und ist nicht perfekt, er ist nur eben das beste Signal, das wir hatten.
  • Nutzer mögen auf Plattformen auf "algorithmische Systeme, also einseitig kontrollierte Prozesse" reagieren. Aber der Supermarktkunde, der das P&G-Produkt kauft, das als Ergebnis harter Hinterzimmerverhandlungen auf Augenhöhe im Regal platziert wurde, agiert in einem vergleichbaren Gefälle. Man kann zusätzlich durchaus argumentieren, dass das algorithmische System flexibler und damit "gerechter" ist, weil es selbständiger auf Signale reagieren kann und wird als ein Geflecht aus Managern von Händlern und Hersteller-Konzernen. Sprich: Das algorithmische System richtet sich am Verhalten der Nutzer aus, während die Hinterzimmerverhandlungen das zu einem weitaus geringern Ausmaß tun. Im Einzelfall ist es natürlich sehr viel komplexer.

Fakt ist, dass Plattformen die Wirtschaft grundlegend verändern. (Wie ich erstmals hier vor fast auf den Tag 11 Jahren schrieb, gehört die Entwicklung hin zu Plattformen zu den wichtigsten, einschneidendsten wirtschaftlichen Entwicklungen durch das Internet.)

Das Bild von der Plattform als "Schwarzes Loch", das den Markt ansaugt und verschluckt, ist anschaulich.  Tatsächlich trifft es aber eher zu, dass Plattformen Märkte übernehmen und neu gestalten. Plattformen sind Marktkoordinatoren. Koordinatoren mit Eigeninteressen. Aber diese Eigeninteressen sind nur erreichbar, wenn auch der Markt 'rund läuft.'

Erfolgreich sind Plattformen mit ihrer Markttransformation nur, wenn sie mit dieser Umgestaltung der Branche für beide Seiten einen Mehrwert schaffen. Zumindest am Anfang ihrer Existenz (und argumentierbar auch dann noch, wenn sie etabliert sind), sind erfolgreiche Plattformen wohlfahrtssteigernd, also zumindest wirtschaftlich1 "besser" als das was vor ihnen kam. Denn was weder im oben zitierten Artikel (noch im zitierten Buch?) bei aller brutaler (und zum Teil gerechtfertigter) Kritik an Plattformen angesprochen wird, ist die simple Tatsache, dass alle Teilnehmer auf den Plattformen freiwillig auf diesen sind.2 Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den heutigen Nachfragemonopolen gegenüber den klassischen Angebotsmonopolen.

Man sollte jede Betrachtung von Plattformen mit dieser simplen Tatsache beginnen.

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  1. 'Wirtschaftlich' muss man hier durchaus als Einschränkung sehen. Die Werbeplattform Facebook ist wohlfahrtssteigernd. Die Art und Weise, wie das Netzwerk Facebook und etwa seine Tochter Whatsapp heute die Öffentlichkeit mitgestalten, sind es argumentierbar nicht unbedingt. Das Gleiche gilt beispielsweise für die Werbeplattform YouTube versus das öffentliche Onlinevideonetzwerk YouTube. (Damit keine Missverständnisse aufkommen, noch einmal komprimiert: Die jeweiligen Werbeplattformen sind eindeutig wohlfahrtsteigernd, während die gesellschaftlichen Effekte der Netzwerk-Produkte selbst in beide Richtungen debattiert werden können.)
  2. Diese Freiwilligkeit wird aufgrund ihrer Häufigkeit im Alltag (wie zum Beispiel einkaufen bei Amazon) schnell zu einer Gewohnheit, die alltäglich und damit unsichtbar wird. Das merkt man unter anderem schön daran, dass Sohn in einem Artikel, in dem er die Zerschlagung von Plattformen wie Amazon fordert, ohne Anflug von Ironie das beworbene Buch auf Amazon zum Kauf verlinkt. Amazon ist nicht der einzige Buchhändler im Netz. Amazon hat nicht sinistre Algorithmen oder seine Monopolmacht (aus)genutzt, um Sohn keine andere Wahl zu lassen. Sohn hat sich ohne Nachdenken für Amazon entschieden, weil es die Default-Option ist, und zwar in einem Ausmaß, so dass viele Menschen es gar nicht mehr als Option wahrnehmen. Mindshare ist mächtig, aber nur schwer zu bekommen.
Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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