Eine bemerkenswerte, zumindest mir neue, Argumentation in der Netzneutralitätsdebatte ist die Aussage, Netzneutralität würde zwar von Bürgerrechtlern gefordert, aber ökonomisch begründbar sei sie nicht.
In einem aktuellen SZ-Artikel heißt es etwa:
Dauerhaften Rechtsfrieden an der Netzneutralitätsfront würde eine solche Lösung aber kaum sichern können. Das liegt daran, dass in Wahrheit zwei völlig unterschiedliche Vorstellungen von Netzneutralität aufeinanderprallen, nämlich eine ökonomisch-wettbewerbsrechtliche und eine bürgerrechtliche.
Die Dichotomie ist das angeblich ökonomisch-wettbewerbsrechtlich sinnvolle Aufheben der Netzneutralität gegen die nur bürgerrechtlich begründbare Netzneutralität.
So einfach ist es nicht. Aber fangen wir vorn an.
Natürlich ist die oft gemachte Aussage, die Netzbetreiber wollen endlich für den Traffic bezahlt werden, den Heavy User auf der einen Seite und große Dienste auf der anderen Seite verursachen, kompletter Unsinn: Sie werden bereits bezahlt. YouTube bezahlt für den verursachten Traffic ebenso wie der Nutzer, der viele Videos schaut und Dateien herunterlädt.
Es geht vielmehr um eine Profitmaximierung durch Preisdifferenzierung:
selbstredend geht es beim Thema Netzneutralität ganz sicher um Geschäftsmodelle (es geht um Zulässigkeit von Preisdifferenzierung) und ganz sicher auch um Knappheit (Netzressourcen sind nicht unbegrenzt vorhanden). Zugleich ist die Frage politisch sehr geschickt zugespitzt: Geht es bei der Netzneutralität womöglich eher um die Umsatzinteressen der Netzbetreiber als um die Behebung realer Knappheitsprobleme? Und wäre dies nicht eher als illegitime Verquickung zu verstehen?
Die Frage, die sich die Politik stellen muss, ist, welche positiven und welche negativen Auswirkungen die Preisdifferenzierung auf Zugangsanbieterseite für die Gesellschaft haben kann.
Ich kann Robin Meyer-Lucht nicht zustimmen, wenn er auf Carta schreibt:
Auf der anderen Seite steht ein Verständnis von Regulierung, das den Charakter der Dienstleistung Internetzugang vorab festschreiben möchte, weil es dem Wettbewerb der Provider stark misstraut oder für nicht geeignet hält, ein nutzer- und gesellschaftsgerechtes Netz bereitzustellen.Im Grunde stehen sich hier ein eher dirigistisch-paternalistisches und ein liberales Modell gegeneinander. Das Thema Netzneutralität ist eigentlich nur ein Schauplatz, um volkswirtschaftlich stark unterschiedliche Vorstellungen von Wohlfahrt zu diskutieren. Manchmal wünscht man sich in der netzpolitischen Debatte, dass dieser Zusammenhang stärker mitreflektiert würde: Es gibt häufig kein endgültiges Richtig oder Falsch, sondern nur unterschiedliche Menschenbilder und Wirtschaftsentwürfe.
Nicht jeder Markt ist gleich und unterschiedliche Wirtschaftsbranchen haben unterschiedliche gesellschaftlichen Bedeutungen und müssen entsprechend unterschiedlich behandelt werden. Natürlich kann man für Regulierung in einem Markt argumentieren, ohne ein durch und durch dirigistisch-paternalistisches Modell anzunehmen.
Bei der Netzneutralitätsdebatte geht es auf politischer Ebene in erster Linie darum, wie man das Internet als Wirtschaftsraum und Gesellschaftsraum bewertet und wie man die Bedeutung der Unternehmen, die den Zugang zum Netz bereitstellen, verortet.
Ein Vergleich:
Niemand wird ernsthaft nach der Finanzkrise argumentieren, dass Banken weitgehend unreguliert am Finanzmarkt agieren können sollten. Sind wir damit alle automatisch gegen Marktwirtschaft und ein liberales Modell eingestellt? Nein, natürlich nicht.
Das Ziel der Wirtschaftspolitik ist, die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu steigern. Marktwirtschaft ist ein in vielen Fällen extrem effizienter Mechanismus zur Allokation knapper Ressourcen. Marktwirtschaft ist aber nur solang gesamtgesellschaftlich wünschenswert, solang die Einzelinteressen zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsteigerung führen. So weit, so abstrakt.
Es gibt verschiedene Unternehmen, die gesellschaftlich wichtigere Aufgaben übernehmen als andere Unternehmen. Banken und Finanzinstitutionen generell stellen die Infrastruktur für den Rest der Wirtschaft bereit, weil sie für die Zirkulierung von Kapital verantwortlich sind. Ihre Bedeutung für die Gesellschaft ist wichtiger als, sagen wir, Nachtclubbetreiber und Hosenhersteller. Deshalb werden Banken auch stärker reguliert als andere Unternehmen.
Wenn Banken zusammenbrechen, kann die gesamte Wirtschaft zusammenbrechen. Ohne Regulierung können Eigennutz und gesellschaftlicher Nutzen von Banken enorm auseinandergehen und zu Katastrophen führen. Dieses Auseinanderdriften, das mitnichten Ausnahme ist, ist umso katastrophaler, je wichtiger die Aufgabe dieser Untenehmen in der Gesellschaft ist. Regulierung in Finanzsektor ist nicht nur richtig sondern auch wichtig. (siehe zu diesen Themen auch das sehr lesenswerte Buch "Freefall" von Joseph Stiglitz)
Adam Smiths unsichtbare Hand wird oft auf eine recht naive Art zu viel Bedeutung beigemessen. (auch unfairerweise gegenüber Smith) Nur solang die Rahmenbedingungen so gesetzt sind, dass Eigennutz zu gesellschaftlicher Wohlfahrt führt, 'funktioniert' der Markt wie eine unsichtbare Hand. (Ein unkontrollierter Markt führt nicht automatisch zu einem Wohlfahrtzuwachs für die gesamte Gesellschaft. Er kann dazu führen. Unter den richtigen Voraussetzungen, die je nach Situation variieren können.)
Zu diesen Rahmenbedingungen zählen marktwirtschaftliche Mechanismen ebenso wie regulative Massnahmen.
Wir sehen also: Regulierung ist abhängig vom jeweiligen Markt, dessen Umfeld und der gesellschaftlichen Bedeutung, die sich zum Beispiel aus nachgelagerten Märkten ergeben kann.
Wenn Jimmy Schulz von der FDP jede Form von Regulierung sofort mit Sozialismus gleichsetzt, zeigt er lediglich, dass er aus welchen Gründen auch immer kein Interesse an einer Diskussion hat und deshalb in der öffentlichen Diskussion so tut, als wäre sein Wirtschaftsverständnis auf Grundschulniveau stehen geblieben, was sicher nicht der Fall ist:
Es dürfe nicht zu einer “sozialistischen Gleichmacherei” im Netz kommen. “Das ‘Sozialismus-Internet’ haben wir schon in China”, ergänzte der Liberale Jimmy Schulz. “Das wollen wir alle nicht.”
Die Implikation, es gebe nur eine Wahl zwischen unkontrolliertem Markt und Sozialismus ignoriert die Realität.
Begreift man, dass das Internet gesellschaftlich enorm wichtig ist und an Wichtigkeit noch sehr viel stärker zunehmen wird, erkennt man die gesellschaftliche Bedeutung, die den Internetprovidern zukommt. Wie wichtig das Web mittlerweile für die Wirtschaft wird, zeigt vielleicht folgende Anekdote:
"In Zahlen heißt das: Von dem Umsatzwachstum in Höhe von 6 Mrd. Euro, das BulwienGesa dem deutschen Handel für 2011 in Aussicht stellt, dürfte nur 50% dem stationären Handel zugute kommen - der Rest landet im Online-Business."
Dank fehlender Online-Strategien gelten Media Markt und Saturn für BulwienGesa bereits als "wankende Riesen".
Das Internet ist für Gesellschaft und Wirtschaft längst nicht mehr wegzudenken. Es ist eine zunehmend wichtiger werdende Infrastruktur für alle möglichen Arten von Transaktionen, zwischenmenschlichen Beziehungen, Handlungen und Kommunikation.
Diese heterogene Masse an Möglichkeiten, die das Web ermöglicht, stehen eine überschaubare Zahl an Internetprovidern gegenüber. Was passiert, wenn unsere Kommunikation über die Dienste von wenigen Unternehmen läuft, die auf ihren Kommunikationszugang unterschiedliche Angebote aufsetzen?
Zum Beispiel das:
SMS. MMS. Und die entsprechenden Preise.
Die Netzneutralität sollte erhalten bleiben und gesetzlich festgeschrieben werden. Zu groß ist die Gefahr, die daraus entsteht, dass die Zugangsprovider dem nachgelagerten Markt, dem Internet mit Google, Facebook, Salesforce, Amazon, dem gesamten E-Commerce, WikiLeaks, Blogs und Foren, Kommunikationsarten verschiedenster Ausprägungen usw. usf. etc. schaden.
Es steht den Internetprovidern, die auch bei Gleichbehandlung der Daten heute bereits profitabel sind, nicht zu, den Zugang zum Internet so umzumodellieren, dass die Gesellschaft einen Großteil der Innovationskraft des Webs einbüßt.
Zumindest nicht, ohne ihre Forderung besser zu begründen: Die Argumentation der Zugangsprovider ist angesichts dessen, was hier verhandelt wird, extrem dünn.
Vor zwei Jahren (!) habe ich auf netzwertig.com bereits über diesen Sachverhalt geschrieben:
Die niedrigen Markteintrittsbarrieren – nie konnte man mit so wenig Kapitaleinsatz so viele potentielle Kunden erreichen – haben die Innovationsschübe im und durch das Internet ermöglicht. Nur weil jeder, egal wie groß oder klein, die gleiche Ausgangslage hat, konnte zum Beispiel Microsoft nicht mit unfairen Mitteln abseits des Marktes die Websuche dominieren. Stattdessen setzte sich das beste Produkt durch.
Schaffen wir diese Gleichheit für alle ab, erhöhen wir also die Markteintrittsbarrieren, verhindern oder zumindest mindern wir die Erfolgschancen des nächsten Google. Ist das gesellschaftlich wünschenswert?
[...]
Die Vielfalt der Aufgaben, die man mit dem Internet erfüllen kann, machen den Zugang immer wichtiger und schützenswerter. Jeder Eingriff in die Infrastruktur muss deshalb besonders abgewägt und im Zweifel eher fallen gelassen statt durchgeboxt werden. Das Internet ist schließlich immer mehr die zugrundeliegende Infrastruktur für das künftige TV, Hörfunk, Telefon, Post und vieles mehr.
Die Internetprovider haben kein Interesse daran, die Startups von morgen mit disruptiven Geschäftsmodellen die Wirtschaft umkrempeln und die Gesellschaft damit ein gutes Stück voranbringen zu lassen. Sie wollen ihre eigenen Profite maximieren, etwas das nicht zwingend mit der bestmöglichen Entfaltung von Internet-Diensten einhergeht. Das ist nicht verwerflich. Aber man muss kein VWL-Professor sein, um zu sehen, dass hier Eigennutz und gesellschaftlicher Nutzen ohne gezielte Steuerungsmechanismen extrem schnell auseinandertriften. In der Regel werden Microsoft und co. mehr Geld zur Verfügung haben als neu gegründete Startups.
Warum sollten die Markteintrittsbarrieren im innovativsten Wirtschaftssektor der Jetztzeit erhöht werden?
Es geht hier schließlich auch nicht allein nur um die offensichtlich anfallenden Kosten für Internetdienste, sondern auch um die versteckten Transaktionskosten: Wenn ein Startup in jedem Land mit unzähligen Internetzugangsprovidern für einen reibungslosen Datenverkehr verhandeln muss, sind die Ressourcen schnell aufgebraucht. Das kann nicht das Ziel sein. (Von Non-Profit-Angeboten ganz zu schweigen.)
Profitmaximierung über Preisdifferenzierung auf der Zugangsebene benachteiligt die Newcomer systematisch, weil es um weitreichendere Abschöpfung der Renditen geht weg vom Web und hin zum Zugangsanbieter. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet, ob wir Zugangsanbieter mit höheren Renditen stark genug brauchen, um dafür Teile der Entwicklung im nachgelagerten Internet-Markt zu opfern.
Für unsere aktuelle Phase der Experimentierung, in der die Gesellschaft die Möglichkeiten des Netzes entdeckt und verrückt erscheinende Dienste wie Twitter entstehen, ist jede von außen kommende Verlangsamung dieses Findungsprozesses mit potentiell hohen Kosten für die Gesellschaft verbunden.
Aber der Wunsch nach umfassender Netzneutralität, die ohne Ausnahme gesetzlich festgeschrieben wird, erscheint wohl langsam aber sicher als illusorisch. Was wäre ein akzeptabler Kompromiss?
Regulierung des Internetzugangs: Netzneutralität als Default
Netzneutralität sollte der Normalfall sein, die Ausgangslage, die Default-Einstellung. Jede Abweichung sollte transparent gehandhabt werden. Sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber dem Endkunden.
Außerdem sollte eine gesonderte, neu errichtete Behörde auf die Einhaltung der Regeln achten und Ausnahmefälle streng prüfen, bevor sie zugelassen werden. (Natürlich könnte diese Aufgabe auch eine bereits bestehende Behörde übernehmen, aber die Aufgabe ist zu wichtig, um sie einer Unterabteilung zu überlassen.)
Auch die immer wieder als Strohmannargument hervorgebrachten Grenzfälle liesen sich so regeln: Man könnte etwa die Netzneutralität grundsätzlich aufrechterhalten und für das Übertragen von medizinischen Daten eine streng kontrollierte Sonderregelung einführen. In den meisten Fällen ist ein Aufgeben der diskriminerungsfreien Übertragung von Daten überhaupt nicht nötig.
Der wichtigste Aspekt liegt darin, dass jede Abweichung von der Netzneutralität, also jede Diskrimierung von Daten, umfassend begründet werden muss und anschließend von einer unabhängigen Stelle zu prüfen ist, bevor sie genehmigt wird.
Schauen wir uns das Einführen von klar definierten Tarifsystemen an, wie es Professor Jörn Kruse befürwortet:
Ginge es nach Jörn Kruse, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, dann täte der Staat [in der Sache Netzneutralität] am besten gar nichts. Zensur und bewusste Benachteiligung müssten verboten sein.Darüber hinaus aber sei "ständige Gleichbehandlung" aller Daten volkswirtschaftlich höchst ineffizient, ja eine Benachteiligung nicht-datenintensiver Dienste und ihrer Kunden. Kruse empfiehlt vielmehr eine Umdefinierung der Netzneutralität: Nicht einfach alle Datenpakete, sondern nur "alle Datenpakete, ,die den gleichen Preis zahlen', sollten gleich behandelt werden". Und das lasse sich am besten durch den freien Markt und mit einem Tarifsystem von Basis- und Premiumklassen erreichen. Die Provider werden das gerne hören.
Das mag auf dem Papier gut aussehen, aber vieles wird in diesem Vorschlag anscheinend nicht bedacht:
- Warum sollten die Internetzugangsprovider mit Preisdifferenzierung mehr verdienen können? Wie viele von ihnen mussten dank zu geringer Einnahmen Insolvenz anmelden? Können eventuelle, notwendige Mehreinnahmen nicht auch über höhere reguläre, datendiskriminierungsfreie Tarife eingenommen werden? Wenn nicht, warum nicht?
- Wenn die Internetzugangsprovider mehr verdienen, kommt dieses Geld von Internetdiensten und Endkunden. Kann die Aufteilung der Dienste, die kein Premium für ihre Daten zahlen können, nicht zu Ungunsten von Non-Profits wie Wikipedia gehen? Wäre der volkswirtschaftliche Schaden nicht enorm, wenn gerade die kleinen Nischenangebote und großen Non-Profit-Angebote von der Differenzierung benachteiligt würden?
Die Implikationen selbst für einfache Vorschläge wie den von Prof. Kruse sind weitreichend und müssen dementsprechend mit allem Ernst diskutiert werden, bevor die Politik handelt.
Auch scheint mir oft in der Debatte nicht bedacht zu werden, dass Zugangsanbieter Mittelsmänner zwischen zwei Parteien sind. Ich zahle als Betreiber von YouTube vielleicht mehr, um meine Daten schnell zum Endkunden zu bringen, wenn es keine Netzneutralität mehr gibt. Darf der Provider dann aber trotzdem für diese schnellere Lieferung nochmal beim Endkunden extra abkassieren? Grundsätzlich laufen wir beim Verlassen der Netzneutralität immer Gefahr, dass Internetprovider doppelt für die gleiche Leistung abkassieren.
So oder so sollte jedes wie auch immer abgestufte System, das bereits nicht die Optimallösung wäre, unter einer intensiven Kontrolle einer separaten Behörde stehen. Zu wichtig ist das Internet und dessen Wirtschafts- und Kommunikationsraum, als dass man riskieren sollte, dass hier bereits auf Zugangsebene eine Entwicklung in Gang kommt, die gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswert ist.
Genau so wie es keine ernstzunehmenden Argumente für einen unkontrollierten Finanzmarkt gibt, gibt es auch keine für eine unkontrollierte Datendiskriminierung der Internetzugangsprovider.