16. Aug. 2010 Lesezeit: 3 Min.

Netzneutralität ist kein Wunschkonzert

Ein zunehmendes Problem in der jetzt durch Google und Verizon entfachten Netzneutralitäts-Debatte, die praktisch sofort nach Europa schwappte und hierzulande zumindest in den Blogs jetzt verstärkt diskutiert wird, ist die schwammige Definition, die von einigen Diskutanten je nachdem umgeformt wird, was einem gerade noch so am aktuellen Web stört.

Anfang Juni versuchte Skype-Nutzer Martin Weigert auf netzwertig.com seinem Unmut über die neue Konzeption des mobilen Skype-Angebots, die auf simple Preisdifferenzierung setzte, mit der falschen Klassifizierung eines Bruchs der Netzneutralität eine größere Tragweite zu geben.

Aktuell vermischt Matthias Schwenk auf Carta Netzneutralität und die Tatsache, dass Apple auf seiner iOS-Plattform Kontrolle ausübt:

Die erste für alle deutlich sichtbare Bresche in das Konzept der Netzneutralität schlug Apple mit seinem App Store für das iPhone ab dem Jahr 2008. Denn so weit noch hinnehmbar ist, dass diese Plattform praktisch nur für Besitzer der zugehörigen Geräte zugänglich ist (Bindung an die Hardware), so wenig akzeptabel ist jedoch die Tatsache, dass jede Applikation von Apple genehmigt werden muss. Damit ist ein privates Unternehmen letzte Zensurinstanz und keine Gerichtsbarkeit der Welt kann hier noch etwas ausrichten. Aktuell hat der Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt (in einem Interview mit der w&v, zitiert bei Turi2), deutschen Verlagen gegenüber klar gestellt, dass sie gegen Apple auf dem Wege des Kartellrechts nichts werden erreichen können, der Marktanteil des iPhone sei dazu zu klein.

Mit dem plattformgebundenen App Store von Apple, der inzwischen eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat (Google Android, Nokia, Microsoft…), strebt das mobile Internet in eine völlig andere Richtung als das World Wide Web der 1990er Jahre, das trotz seines Browser-Krieges sich doch Hardware- und Betriebssystem-agnostisch entwickeln konnte.

Man mag verschiedene Ansichten zu Apples Plattformansatz haben, Apples Gebaren bei iOS aber mit Netzneutralität in Verbindung zu bringen, ist ziemlicher Unsinn.

Nicht nur ist der Marktanteil des iPhones trotz Bloghype immer noch relativ gering (wie auch im Carta-Artikel angemerkt) - also aktuell kaum problematisch für das Web als Ganzes -, sondern auch und vor allem konzeptionell ist die Verbindung zur Netzneutralität nicht vorhanden:

iOS ist ein Betriebssystem, das die Möglichkeit des Zugangs zum Internet anbietet. Die Bedeutung des Internetzugangs für iOS und andere mobile und semimobile Betriebssysteme wie Android, WebOS, das kommende ChromeOS usw. mag bei weitem wichtiger sein als für die Desktop-Betriebssysteme, aber sie bleiben auch genau das: Betriebssysteme.

Hinzu kommt, dass iOS einen nicht beschnittenen Browser mit HTML5-Fähigkeit mitbringt. Der von offenen Standards bestimmte Zugang zum Web wird nicht behindert. Im Gegenteil: HTML5 wird aktiv unterstützt.

Die Presseverlage beispielsweise mögen sich also beschweren, dass sie ihre Apps für iOS an Apples Bestimmungen anpassen müssen, aber das ist kein Bruch der Netzneutralität sondern lediglich: Hausrecht. Denn jeder Verlag, dem das nicht passt, kann sein Angebot weiterhin im frei zugänglichen Web zur Verfügung stellen. Dort kann man die Website nicht nur von Windows, MacOS und Linux aus erreichen sondern auch von jedem iOS-Gerät. Und wem das nicht reicht, der kann weiterhin auf einen konkurrierenden OS-Anbieter für seine nativen Applikationen setzen.

Wer Apples Plattform-Kontrolle als Zensur bezeichnet, muss es auch als Zensur bezeichnen, dass nicht jeder nach eigenem Gusto einen beliebigen Artikel zu einem beliebigen Thema in einer beliebigen Tageszeitung unterbringen kann.

Nochmal die Definition von Netzneutralität laut Wikipedia:

Netzneutralität ist eine Bezeichnung für die neutrale Datenübermittlung im Internet. Sie bedeutet, dass Zugangsanbieter (access provider) Datenpakete von und an ihre Kunden unverändert und gleichberechtigt übertragen, unabhängig davon, woher diese stammen oder welche Anwendungen die Pakete generiert haben.

Man kann durchaus über die Strategien von Plattformprovidern wie Apple, Microsoft oder Google diskutieren, aber es ist dringend notwendig, diese Diskussion nicht mit der bereits recht komplexen Debatte zur Netzneutralität zu vermischen.

Zu Schwenks Ausführung über Apples App Store kann man in etwa das gleiche sagen, was ich bereits in Bezug auf Skype und Martin Weigerts Aussagen seinerzeit schrieb:

Diese Entscheidungen [der Ausgestaltung des eigenen Angebots] betreffen allein die jeweiligen Dienste und ihre Nutzer. Skype bietet keinen Zugang zu anderen Diensten an, der dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Erst dann könnte man über eine Problematik, die über den Dienst hinausgeht, reden. Aber auch dann wäre die Thematik eher bei der seemannschen Idee der Plattformneutralität statt bei der Netzneutralität anzusiedeln.

Die Debatte um den App Store von Apple wäre, wenn schon, dann eine Debatte zur 'Plattformneutralität'.

Heute hat Robin Meyer-Lucht auf Carta zur fehlenden Abgrenzung des Begriffs der Netzneutralität geschrieben:

Die ‘Netzneutralität’ gilt als Garant für die Gleichbehandlung der Anbieter im Netz. Dabei erstreckt sich die Neutralität lediglich auf die Traffic-Ebene. Probleme in Bezug auf den Zugang zu Plattformen, wie beispielsweise von Apple, löst die ‘Netzneutralität’ nicht. Sie wäre also nur eine Teillösung.

Ja, und das ist auch gut so. Man kann nicht mit einem einzelnen Diskurs und einer einzelnen politischen Forderung die ganze Welt retten.

Ebenfalls sehr lesenswert ist auch die dreiteilige Artikelserie von Isotopp zum Thema Netzneutralität:

Teil 1: Vokabeln für Netzneutralität:

Netwerkneutralität im Allgemeinen dreht sich um das zentrale Konstruktionsprinzip des Internet, daß Netzwerk selbst 'dumm' zu halten und die 'Intelligenz' in den Endpunkten des Netzes zu installieren. Genauer gesagt: Das Netz selbst soll nur eine Sache machen, und die dafür richtig - nämlich Datenpakete von A nach B routen. Daten sind Schüttgut und das Netz analysiert die Daten nicht, um sie zu unterscheiden und dann unterschiedlich zu behandeln. Das Netz bringt auch keine Dienste außer der Beförderungsdienstleistung für die Daten, sondern Dienste sind in Endknoten installiert.

Teil 2: Netzwerk-Überlast vs. Netzwerkneutralität

Teil 3: Netzneutralität - was ist okay und was ist es nicht?

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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