Aktuell werden in den Medien online wie offline die Aussagen der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner und des Innenministers de Maizière diskutiert, einen "digitalen Radiergummi fürs Internet" für das digitale Vergessen einzuführen.
Zur vorgeschlagenen Technik, die in erster Linie DRM vorsieht, muss man nichts mehr sagen. Das hat Kristian Köhntopp bereits getan.
Interessant dagegen ist der Wunsch, dass digital Festgehaltenes 'vergessen' werden kann. Wie Michael Seemann bin ich auch verwundert darüber, dass auch in den deutschen Blogs die vorgeschlagene Technik zwar als der Schmarrn hingestellt wird, der sie ist, aber die Grundidee, man könne Digitales quasi mit einem Selbstzerstörungsmechanismus versehen, nicht als abwegig abgetan wird.
Es ist wieder einmal eine Funktion der digitalen Welt, die für Unwohlsein sorgt, und die Gegenreaktion, um den Status Quo aufrecht zu erhalten, muss natürlich überzogen sein:
Ein Firefox-Plugin für ein proprietäres Bildformat, das kryptographisch signierte Bilder nach einem bestimmten Datum nicht mehr anzeigt. Was natürlich auch circa 3 Millionen Weisen leicht auszutricksen ist, und in keiner Weise einem Radiergummi entspricht.
Das ist natürlich außerdem unpraktikabler und unnützer Humbug, was jedem, der sich ein bisschen mit der Materie beschäftigt, klar ist.
Aber, und hier beginnt das Verrückte: Viele deutsche Blogger halten die Idee des Vergessen unabhängig von der Technik für umsetzbare Sache. Auf netzpolitik.org wird zum Beispiel Folgendes vorgeschlagen:
Es geht nur auf eine Art: Jedes etwas bessere CMS kennt Auslaufdaten (Expire-Dates). Dabei werden die Dateien vom Server gelöscht, was nicht wesentlich unsicherer ist als die screenshotanfällige X-Pire-Lösung. Das Einrichten von Auslaufdaten für Inhalte sind also serverseitig im Rahmen des technisch Möglichen machbar und könnten tatsächlich auch verpflichtend in Recht gegossen werden. Zudem könnte man einführen, dass nach einer gewissen Inaktivität und fehlgeschlagener Kontaktaufnahme Inhalte gelöscht werden.
netzpolitik.org, das Blog, das auch in der Vergangenheit bereits auf den Google Cache zurückgegriffen hat, hält Auslaufdaten für umsetzbar? (und wünschenswert?)
Wie sollte das vorgeschlagene Veröffentlichen mit Verfallsdatum effektiv funktionieren?
Man müsste etwa Google und andere Webdienste dazu anweisen, Inhalte zu löschen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Nicht nur Google und das Internet Archive. Alle Webdienste.
Und dann wäre wieder alles gut und wir könnten endlich vergessen? Nein.
Würde man das tatsächlich erreichen, wäre es nur eine Frage der Zeit bis engagierte Aktivisten eine dezentrale Indizierung einführen. Jeder, der will kann das Internet indizieren und diesen Index bzw. Teile des Indexes dann über P2P-Tauschbörsen wie BitTorrent bereitstellen. Das macht heute niemand, weil es nicht nötig ist. In der oben vorgestellten hypothetischen Welt wäre es das dagegen schon.
Digitale Inhalte haben kein Verfallsdatum, weil sie digital sind. Es existieren praktisch keine Kopien, sondern nur Originale, weil keine Unterschiede auszumachen sind. Das gibt uns erstmals die Möglichkeit, unsere Kultur (und dazu gehört auch unser Alltagsleben) besser weil nachhaltiger zu bewahren als es je eine Bibliothek konnte.
Wir haben letztlich auch keine Wahl. Verfallsdaten bei digitalen Inhalten setzen voraus, dass wir andere zum Vergessen zwingen. Denn die haben schließlich auch die gleichen Originale in ihren Speichern, sei es der Google Cache, das Internet Archive oder der Freund, der die auf Facebook hochgeladenen Fotos auf seiner Festplatte abgespeichert hat. (Die er notfalls auch mittels Screenshot speichern kann, um auf Nummer sicher zu gehen.) Von dem, was wir uns in unseren Köpfen gemerkt haben, ganz zu schweigen.
Michael Seemann bezeichnet deshalb die Idee zum digitalen Löschen zu recht als Zwang zur Demenz:
Was man mit dem “digitalen Vergessen” also fordert, ist nicht ein Vergessen in dem Sinne, wie wir es kennen, sondern eine fremdbestimmte Demenz! Ich soll vergessen, was mir Christoph erzählt hat, weil er das halt so will. Er soll mir in meinen Erinnerungen rumkramen und rauslöschen können, was ihm da nicht gefällt. Oder von Anfang an bestimmen, wie lange ich es erinnern darf.
Und das ist, wie ich oben schon schrieb, eine völlig überzogene Forderung. Aber natürlich muss sie überzogen sein, denn sie widerspricht dem Wesen digitaler Inhalte.
Es ist interessant: Die Parallelen zur deutschen Filesharing-Debatte sind unübersehbar. Auch dort wurde DRM viele Jahre als Lösung für das Aufrechterhalten des Status Quo trotz umwälzender Veränderungen angepriesen. Auch dort haben deutsche Netzaktivisten wie Blogger erkannt, dass das keine Lösung ist. Auch dort aber teilten bzw. teilen sie immer noch die Forderung der Industrie und Politik, dass der Status Quo aufrechterhalten werden sollte. Auch dort gibt es eine Diskrepanz zwischen Zustimmung zur Forderung und Ablehnung der daraus folgenden logischen Konsequenz, also der technischen Umsetzung.
All diese Debatten zeigen, dass auch die deutsche Blogosphäre, die vermeintliche Informationselite, noch weit davon entfernt ist, die Konsequenzen aus der Digitalisierung zu erkennen und die daraus folgenden notwendigen Debatten zu führen.
Der Wunsch nach digitalem Löschen/Vergessen passt gut in das Klischee des deutschen Datenschützers. (Generell interessant in diesem Zusammenhang: Es wird in Deutschland nicht von der Datennutzung gesprochen, oder gar den Datenchancen, sondern praktisch nur vom Datenschutz. Also von den Gefahren und Risiken, und damit ganz im Sinne des deutschen Internet-Diskurses.)
Aber sollten wir nicht die Tatsache feiern, dass wir ein gigantisches Archiv unseres Wissens und unserer Kultur erschaffen? Dass all die kleinen und großen Beiträge nicht verloren gehen, selbst wenn der Erschaffer das zehn Jahre später gern so hätte? Wäre uns als Gesellschaft wirklich geholfen, wenn wir nachträglich alles wieder depublizieren könnten?