Feuilletonisten & Internetversteher
Wenn über den neuen Status Quo in der von digitalen Dynamiken getriebenen Wirtschaft diskutiert wird, gibt es grob gesagt 2 Gruppen, die der deutschen Wirtschaft gern und oft Tipps geben:
Die erste Gruppe, nennen wir sie 'die Feuilletonisten', haben lange Zeit der deutschen Wirtschaft versucht zu versichern, dass alles nur ein Trend sei, der bald vorübergehe. Insgeheim wird das immer noch ein bisschen gehofft. Die FAZ hat, seit das Internet seine Trendigkeit abgelegt hat, eine neue Entwicklung entdeckt, die sie zum vorübergehenden Trend herabschreiben kann: Die Elektromobilität.
In diese erste Gruppe fallen auch Manager eingesessener Unternehmen, die öffentlich allen Stakeholdern versichern müssen, dass alles normal sei und es nichts zu sehen gibt. Printzeitungen haben eine bessere Haptik, der Diesel ist so sauber wie nie, wir werden immer lineares Fernsehen genießen, da haben wir ein gemeinsames Erlebnis.
Die zweite Gruppe sind die Internetversteher, die wissen, dass alles digital wird, dass Software die Welt frisst. Die in ihren Augen offensichtliche Konsequenz daraus: Alle Unternehmen müssen jetzt Softwareexperten werden. Das stimmt zwar. Aber was diese Gruppe ihre eigenen Haare raufend übersieht: Unternehmen können nicht einfach neue Kernkompetenzen aufbauen.
Wir müssen gar nicht darüber reden, ob ein Übergang von einem klassischen industriellen Modell zu einem softwarezentrischen (und damit in der Regel internetzentrischen) Modell nun eine disruptive oder eine erhaltende Innovation darstellt; das ist situativ abhängig. Disruption macht den Wandel unmöglich (nicht nur schwer). Aber selbst wenn diese Extremsituation nicht eintritt: Die zweite Gruppe geht davon aus, dass VW einfach ein Multi-Touch-Betriebssystem bauen kann, das so smooth arbeitet wie iOS und Android. Dass ein Thalia und co. als Konsortium ein Gesamtangebot wie Kindle einfach aus dem Boden stampfen können. Sie gehen davon aus, dass Presseverlage plötzlich Website- und App-Experten werden können. Manches davon geht halbwegs -2018 sind viele Websites von Presseverlagen zumindest nutzbar, das war nicht immer so-, manches dagegen geht nicht. VW und co. werden Multi-Touch-Interfaces wohl nie auf dem Level der mobilen Betriebssysteme umsetzen können, ohne Android zu forken.
Der Punkt ist: Etablierte Unternehmen, besonders einige Jahrzehnte alte Unternehmen, sind zu unbeweglich, um einfach mal so, neue Strukturen rund um neue Kernkompetenzen aufzubauen.
Die zweite Gruppe hat die Bedeutung von Software erkannt, unterschätzt aber organisationale Grenzen.
Deshalb sind die Ratschläge zu mehr Software zwar nicht falsch, aber sie beziehen nur die Hälfte des Kontextes ein. But wait, es kommt noch schlimmer:
Zusätzlich zur nicht kleinen Herausforderung, das Produkt digital neu zu denken, kommen noch Marktdynamiken, die die Märkte umschichten: Während früher™ lokale Tageszeitungen ein No-Brainer waren, weil lokale Werbemonopole lukrativ sind, und deutsche TV-Sender eben das Bedürfnis der Deutschen nach TV-Unterhaltung befriedigten, haben sie heute nicht zwingend eine digitale Daseinsberechtigung.
Lokalzeitungen haben das Werbemonopol verloren, weil die Werbekunden bei Immoscout, Amazon, LinkedIn, Facebook, Google und co. schlicht besser bedient werden. Nichts kann das umdrehen. Auch nicht die beste "Digitalstrategie" für einen lokalen Presseverlag.
Das heißt: Egal wie gut man ist, wie sehr man sich anstrengt, wie sehr man alles "richtig" macht, es gibt Situationen, in denen man nur verlieren kann. Oder zumindest: Situationen, die dazu führen, dass man niemals wieder in die einstmals bequeme Position zurückkehrt. Es gibt Marktverschiebungen, die jede Tür verschließen können. Es gibt neue Kontexte, bei denen man im besten Fall auf ein Überleben hoffen kann, und nicht auf ein vergleichbar lukratives Geschäft, wie man es früher einmal hatte, oder gar auf die Marktführerschaft.
Es sieht natürlich nicht immer so schlimm aus. Aber es ist eine Botschaft, die natürlicherweise auch niemand hören will und deshalb selten debattiert wird. Nichtsdestotrotz ist es erstaunlich, wie über diesen möglichen Ausgang nur sehr selten gesprochen wird. Denn er trifft auf mehr deutsche Branchen (nicht nur Unternehmen) zu, als uns lieb sein dürfte. Ein realistischer Blick ist aber wichtig, um nicht Ressourcen in Sackgassen zu werfen und wertvolle Zeit zu verschwenden.
Warum es wichtig ist: Wenn Pragmatismus fehlt, wird Geld verbrannt. Die unbequeme Wahrheit lautet: Die Digitalisierung bietet nicht nur Chancen sondern eliminiert auch ganze Klassen an Unternehmen.
Was RTL vorhat
Als aktuelles Beispiel bieten sich die jüngsten RTL-Pläne an. RTL plant, das aktuelle Mediathekenangebot TV Now zu einem vollwertigen On-Demand-Videoangebot ähnlich zu Netflix und co. umzubauen. RTL ist zugutezuhalten, dass sie sehen, wohin sich der TV-Markt sehr offensichtlich entwickelt, und dass sie offensiv ein Produkt für diesen Markt entwickeln wollen.
Deswegen fällt es mir schwer das Offensichtliche auszusprechen: RTL hat keine Chance auf dem künftigen vom Streaming dominierten TV-Markt.
heise: "Gegen Netflix und Co.: RTL will stark in Video-on-Demand investieren":
Die RTL-Gruppe will dem Vormarsch globaler Plattformen wie Netflix und Amazon Prime Video ein eigenes Video-on-Demand-Angebot für ein Massenpublikum entgegensetzen. "Das lineare Fernsehen ist unser Rückgrat, aber wir werden in den nächsten Jahren stark in unsere Video-on-demand-Angebote investieren", sagte der Chef der RTL-Group, Bert Habets, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Habets strebt dem Bericht zufolge an, mit diesem Angebot zum Massenanbieter zu werden. "Deswegen ist es wichtig, unsere Investitionen deutlich zu erhöhen und auch mehr Risiko zu wagen."
RTL will in "lokale Inhalte investieren". Serien, Shows und Reality TV, also alles, was man bei RTL bekommt, soll es künftig on-demand und nicht nur linear geben. Löblich: Der monatliche Abo-Preis soll "auf jeden Fall" einstellig bleiben.
Der Kontext
Der endgültige Auslöser dürfte nicht der Aufstieg von Netflix sein, den kann die erste, oben genannte Gruppe wegargumentieren, weil es nur ein Onlinedienst ist. Stattdessen dürften die Disney-Pläne auch den letzten Entscheidern in den deutschen TV-Sendern klar gemacht haben, dass die Zeitenwende für das Fernsehen da ist.
Wenn Disney einen eigenen Netflix-artigen Dienst aufbaut, dann werden die Disney-Inhalte mittelfristig dort landen; und zwar weltweit. Neben den klassischen Kinderfilmen und -serien von Disney sind das auch alle Pixar-Filme, alle Marvel-Filme und alle Star-Wars-Filme.
Nochmal zum Mitschreiben: Sobald die aktuellen Lizenzen für die Ausstrahlung im deutschen TV ausgelaufen sind, werden Marvel-Filme, Pixar-Filme und Star-Wars-Filme nie mehr im deutschen Fernsehen zu sehen sein. Nie mehr.
Das Gleiche gilt natürlich auch für alle Originalserien bei Amazon und Netflix, also House of Cards, Stranger Things, Orange is the new Black, usw. usf. Desweiteren haben Amazon und Netflix ein Interesse daran, Inhalte von anderen Produzenten einzukaufen, die exklusiv nur auf ihren Diensten verfügbar sind. Das heißt, Serien und Filme, die zwar im US-TV noch regulär laufen, laufen bereits zunehmend im US-Ausland auf Amazon oder Netflix.
Unter dem Strich bedeutet das, dass die Zahl der exklusiven Serien und Filme, die jede/r sehen will, gar nicht mehr über das klassische deutsche TV stattfinden. Dieser Vorgang fängt nicht jetzt erst an, er ist längst im Gange.
Für das klassische TV bleiben immer weniger Inhalte aus den USA, welche sie lizenzieren können. Die drei künftigen großen TV-Riesen -Netflix, Amazon Prime und Disney- werden neben den Eigenproduktionen zunehmend ihr Geld einsetzen, um den Rest der TV-Inhalte weltweit unter sich aufzuteilen. Es ergibt wenig Sinn, die Rechte mit linearem TV zu teilen.
Es kann natürlich Sinn ergeben, weil die Rechte dadurch günstiger werden können, und lineare Ausstrahlung kaum Konkurrenz für den gleichen Inhalt auf On-Demand darstellt. Trotzdem ist diese Situation unwahrscheinlich: Keiner der künftigen TV-Riesen muss sparen und im Zweifel ist Exklusivität zu bevorzugen. Am wahrscheinlichsten aber ist es, dass sich auf dem US-TV-Markt die Praxis noch stärker etabliert, Serien für den Heimatmarkt zu einem signifikanten Teil mit dem Sofortverkauf der globalen Auslandsrechte an einen der Streaming-Anbieter zu finanzieren. Das findet bereits heute bei zunehmend mehr Serien statt. Das ist eines der Hauptprobleme der deutschen TV-Sender: Egal was sie gern machen möchten, ihre Hauptlieferanten, die US-Studios, schauen zunehmend gar nicht mehr auf den deutschen Markt gesondert, weil deren neuen Abnehmer (Netflix und Amazon) global agieren.
Was sollen die deutschen TV-Sender dagegen machen?
Netflix gab 2017 6,3 Milliarden $ für Eigenproduktionen und Lizenzen aus. Amazon gab 4,5 Milliarden aus, und Hulu, "weit abgeschlagen", immer noch 2,5 Milliarden.
Netflix plant, 2018 8 Milliarden $ auszugeben. 700 neue Eigenproduktionen sollen dieses Jahr auf dem Dienst erscheinen.
Im On-Demand-Streaming-Sektor gilt, was für den gesamten Mediensektor gilt: Hohen Fixkosten (die Produktion der Serien und Filme) stehen vernachlässigbar geringe variable Kosten (Traffic-Kosten für das Streaming an die Kunden) gegenüber.
Die unmittelbare Folge daraus: Wer global agiert, hat die bessere Kostenstruktur. Je mehr Abonnenten Netflix weltweit anzieht, auf desto mehr zahlende Kunden können die Fixkosten verteilt werden. Ein Hit-Mechanismus auf Angebotsebene.
Ein Dienst für den deutschsprachigen Raum hat keine Chance gegen diese globalen Dynamiken im TV-Markt.
Spocht
Man könnte nun argumentieren, dass immerhin noch Reality-TV, Event-TV und Sport-Übertragungen die Rettung für RTL und co. sein könnten.
Übersehen wir hierfür, dass RTL plant, mit deutschen Eigenproduktionen, also eigenen "Originals", bei TVnow.de zu punkten. Und nehmen wir weiter an, RTL erkennt frühzeitig, dass sie diesbezüglich keine Zugpferde haben oder haben werden. (Amazon und Netflix geben bereits lokal Inhalte in Auftrag; internationale Prestige-Serien mit entsprechenden Budgets werden wohl niemals aus Deutschland oder gar dem RTL-Stall kommen.) Was bleibt, wären also die oben genannten anderen Formate.
Das Problem: Zum einen ist es durchaus nicht abwegig, dass Disney ESPN als Streamingangebot internationalisiert und anfängt, um Sportrechte auch in anderen Ländern mitzubieten. Zum anderen, sehr viel greifbarer, ist Amazon prädestiniert dafür, in die Sportübertragung einzusteigen.
Dafür gibt es aus strategischer Sicht 3 Gründe:
- Amazon braucht Entertainment-Gründe, Kunden zu Prime zu locken.
- Dadurch, dass Prime ein Bündel ist, muss der Video-Part keine Rundumversorgung bringen (so wie es Netflix in den Augen der Kunden leisten muss),
- Amazon hat Geld und Prime eine Kostenstruktur, die Sportlizenzen bei Amazon plausibel macht.
Ich hatte es bereits an anderer Stelle einmal erwähnt: "Sports rights" werden explizit von Amazon genannt als die neuen Felder, auf die sich Amazon Prime Video nach der letztjährigen strategischen Umorientierung konzentriert. Mediapost:
Sports is expected to be a key driver not only for content spend from internet companies, but to boost online video ad growth. The live nature of sports means people watch through commercials, while delivering that video over the internet allows for more targeted, relevant and interactive ads.
Anmuth argues that internet companies are spending on limited sports rights (i.e., short-term “Thursday Night Football” on Amazon and MLB games on Twitter) to “build engagement now to potentially bid for bigger sports rights down the line.”
Davon abgesehen macht es für RTLs TVnow.de auch keinen Unterschied, ob Fußball nun bei Sky oder Amazon läuft.
Die einzige unbekannte Variable hier sind die Lizenzgeber. In wenigen Jahren werden die großen Streaminganbieter allerdings weitverbreitet genug sein, um die einzigen Bedenken der Lizenzgeber auszumerzen: Reichweitenverringerung und damit potenziell drohender Relevanzverlust werden dann kein Thema mehr sein. Im Gegenteil: Ein Amazon Prime könnte höchstwahrscheinlich bereits heute mehr Geld und mehr Reichweite als Sky bieten.
Das heißt, sowohl Sport als auch hochwertige Fiktion landen aller Voraussicht nach mittelfristig bei den globalen Streamingriesen. Mit zweitklassigen Eigenproduktionen (nennen wir es positiv Nische) und Reality-TV und dem einen oder anderen Event allein kann RTL keinen Streamingdienst neben Netflix et al nachhaltig betreiben.
Mit solch einem Angebot muss man den Kampf um die Zeit der Kunden verlieren. Und wer den Kampf um die Zeit verliert, verliert natürlich auch den Kampf um die Abonnements.
Und mehr und weniger
Nach alldem haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, dass ein RTL-Pendant zu Netflix mindestens ebenso schnell in ebenso hoher Qualität streamen muss, mindestens ebenso benutzerfreundlich in der Oberfläche sein muss, mindestens auf ebenso vielen Plattformen verfügbar sein muss, mindestens ebenso selten ausfällt, mindestens ebenso eigene RTL-Knöpfe auf Fernbedienungen-belassen wir es an dieser Stelle. Fast all das ist machbar (bis auf die Knöpfe), es muss nur umgesetzt werden, aber es fällt auch nicht vom Himmel. Netflix arbeitet seit vielen Jahren auch an der eigenen Empfehlungsmaschine, die aus der reichhaltigen Bibliothek die bestgeeignetsten Inhalte für jede Zuschauerin herausholen soll. Das funktioniert mal besser, weniger gut. Aber ein RTL fängt hier nahe Null an. Eine vergleichsweise kleine Bibliothek mit schlechter Personalisierung wirkt vor allem: abschreckend. Deutsche Anbieter ziehen sich an dieser Stelle oft notgedrungen auf einen redaktionellen Ansatz zurück. Dieser ist aber nicht besser für die Kunden, nur leichter umsetzbar.
Die technische Komponente ist nicht trivial, wenn auch machbar. Umso bitterer, wenn die Marktdynamiken offensichtlich das Projekt zum Scheitern verurteilen. Es macht die Anstrengungen zu einer griechischen Tragödie.
Was sind also die Optionen?
Erstens: RTL orientiert sich wie ProSiebenSat.1 um und fängt an, ein Zukunftsgeschäft aufzubauen, das nichts mit Video und der Zukunft des Fernsehens zu tun hat.
Zweitens: RTL erkennt die eigene relative Zwergengröße an und stellt sich darauf ein, beispielsweise als ein Channel von vielen bei Prime (oder Apple TV) etc. zu laufen. Amazons Prime Channels sind ein klassisches trojanisches Plattformpferd, das in naher Zukunft stärker ausgebaut werden dürfte, und optimal für kleine On-Demand-Streamer wie RTLs TV Now sein wird. Digiday über den heutigen Stand:
Launched in late 2015, Amazon’s Prime Video Channels program lets TV networks and video publishers with OTT streaming channels distribute those channels to Amazon Prime customers. Today, the program has more than 160 channels in the U.S. and more than 260 channels worldwide, including those from big-name TV programmers such as HBO, Showtime, Starz and CBS. Amazon Prime subscribers pay extra to add streaming channels from these companies.
Amazon has not broken out how many Prime members use Prime Video Channels. But for networks, the program has been a boon for subscriptions. According to a recent study from The Diffusion Group, Prime Video Channels accounts for 55 percent of all direct-to-consumer video subscriptions.
Amazon wird den Mittelsmannstatus im TV dominieren. Hier haben auch Spartenangebote, die kein konkurrenzfähiges Rundumangebot mehr bieten können, eine (natürlich sehr viel bescheidenere) Zukunft.
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die RTL-Gruppe die nächsten Jahre für ihre Verhältnisse sehr viel Kapital ausgeben wird, um sich am Ende mit der zweiten Option begnügen zu müssen.
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